Kapitel 3 aus der Beitragsreihe Placebo & Placebo-Effekt (→ Gliederung)
Der oder die Placebo-Effekte? Physiologische und/oder subjektive Reaktionen auf den nicht-physikochemisch wirkenden Anteil medizinischer Intervention werden von den meisten als ein und dasselbe Phänomen verstanden: Placebo-Effekt, z.B. das Verschwinden eines Ausschlags und Schmerzlinderung infolge einer vorgetäuschten Behandlung. Dadurch wird aber indirekt nach einem einzigen Grundmechanismus gefragt, der jeder Placebo-Antwort (der bessere Terminus ist meaning response, Bedeutungsantwort) [1] zugrunde liegen müsste. Gibt es denn einen solchen Mechanismus? Miller und Kaptchuk (2008) [2] bemängeln, dass die Verwendung des Singular Verwirrung stiftet, einer von vielen Faktoren im konzeptuellen Durcheinander um dieses Thema (siehe z.B. Kapitel 1.1).
Die Frage nach den Mechanismen für genuin psycho-biologische Reaktionen ist Gegenstand anhaltender Forschung und alles andere als endgültig geklärt. Es gibt jedoch einige grundsätzliche Richtungen, wovon neurobiologische und psychologische Ansätze im aktuellen Milieu die prominentesten Erklärungstendenzen darstellen. [3]
In Fachkreisen hat man sich längst davon verabschiedet, von dem Placebo-Effekt als einem einheitlichen Konzept zu sprechen. Einerseits scheinen einfach zu viele verschiedene Faktoren involviert zu sein. Andererseits wurden bereits unterschiedlichste biologische Realisierungsmöglichkeiten (pathways) aufgedeckt, sodass Placebo-Effekte mittlerweile als ein Spektrum an Reaktionen diskutiert werden. [4], [5] Im Gegensatz zu anderen bekannten Funktionen wie z.B. ‚Verdauung’, ‚Atmung‘ oder ‚Stressreaktion‘ lassen sich bei Placebo-Antworten keine fundamentalen mechanistischen Gemeinsamkeiten identifizieren, weshalb sie nicht als einheitliches Konzept diskutiert werden können. Man könnte beim Placebo-Effekt durchaus der falschen Vorstellung erliegen, bei jeder Placebo-Reaktion gäbe es so etwas wie „Placebo-aktive Zellen“ mit „Placebo-Rezeptoren“, die bei der Einnahme eines inaktiven Placebo-Medikaments immer die gleiche biochemische Kaskade in Gang setzen. Aber es gibt es ja keinen Wirkstoff, mit dem der Körper auf eine solch spezifische Weise interagieren könnte. Der Ausdruck meaning respone definiert jene Reaktionen stattdessen über die übergeordnete Gemeinsamkeit der Bedeutung medizinischer Behandlungen, anstelle dessen, was verabreicht wird (denn dies kann alles mögliche sein; siehe Kapitel 1.1). So impliziert der Begriff auch in keinster Weise, dass es einen prinzipiellen biologischen Hauptmechanismus geben muss. Was sich an dem Vergleich mit anderen bereits verstandenen physiologischen Prozessen zeigt, ist, dass sich die Frage nach einem oder vielen unterschiedlichen Placebo-Effekten überhaupt stellen lässt. Das bedeutet, dass wir noch gar nicht verstanden haben, was wir da eigentlich untersuchen. Auf der Ebene der Biologie wird es den Placebo-Effekt nie geben. Jedoch erfordert das Phänomen klar eine systemisch übergeordnete Perspektive, um verstanden zu werden.
1. Biologische Ansätze
Aus neurobiologischer Sichtweise erfolgt die Differenzierung von Placebo- bzw. Bedeutungseffekten nach den jeweils spezifisch beteiligten neurobiologischen Prozessen, Hirnregionen und Systemen, in jeweils unterschiedlichen Erkrankungen und Behandlungsformen. [Abb. 1 in 3]; [6]–[8] Dies hat auch den praktischen Vorteil, dass die ethischen Richtlinien bei der Durchführung von Studien mit Placebos besser nach den unterschiedlichen Mechanismen angepasst werden können. [9]
Im Folgenden wird ein kleiner Überblick zur Evidenzlage gegeben. Die Neurobiologie der Placebo-Antwort ist bisher am besten für Analgesie (Schmerzlinderung) untersucht. Studien mit Antagonisten und Agonisten zeigten für manche analgetische Placebo-Effekte eine spezifische Vermittlung durch endogene Opioide und das Hormon Cholecystokinin auf. [Referenzen 42-50 in 3] So wurde auch für die schmerzstillende Wirkung von Akupunktur ein physiologisch vermittelter Effekt nachgewiesen [10] (mehr zu Akupunktur siehe [Ref. 86-88 in 3]). Bildgebende Verfahren des Gehirns haben jene Funde zur Beteiligung von Opioid-Mechanismen in Placebo-Effekten zusätzlich untermauert und ferner die Ähnlichkeit der Gehirnveränderungen nach einer Placebo- und nach einer Opioid-Verabreichung demonstriert. [Ref. 51-56 in 3] Opioid-Signalwege können auch noch an weiteren physiologischen Funktionen beteiligt sein, z.B. an Placebo-assoziierten Herzkreislauf-Veränderungen. [Ref. 57-58 in 3] Doch nicht immer sind bei einer Placebo-Antwort endogene Opioide involviert, sondern ebenso diverse Neurotransmitter und Neuromodulatoren (z.B. Dopamin und das Endocannabinoidsystem [11]–[13]). Weil es sich also um eine Vielzahl potentieller Mechanismen handelt, müssen Bedeutungseffekte und die jeweils beteiligten biologischen Systeme auch in verschiedenen Krankheitsbildern untersucht werden, z.B. Parkinson, Depression und Suchterkrankungen. [Ref. 23, 26, 59-62 in 3] Des Weiteren besteht eine hohe Ähnlichkeit zwischen pharmakologischen Signalwegen und den bei einer Placebo-Antwort aktivierten endogenen Signalwegen. Dies bietet eine wertvolle Grundlage zur Erforschung der Interferenz von aktivem Medikament und Placebo-Effekt [8] (siehe Kapitel 2).
Aus der biologischen Sichtweise gibt es zahlreiche Placebo-Effekte. Aber gibt es womöglich einen einzigen psychologischen Mechanismus, der sie erklären kann [vgl. 2]?
2. Psychologische Ansätze
Jenseits dessen, was auf neurobiologischer Ebene passiert, muss es auch psychologische Faktoren und Mechanismen geben, die zu einer Bedeutungsantwort beitragen. Schließlich spricht man im aktuellen Medizinparadigma ja auch von psycho-biologischen Reaktionen.
Die Milch-Shake-Studie von Crum et al. (2011) [14] ist ein gutes Beispiel für eine klar physiologisch ausgeprägte Bedeutungsantwort, deren starke Abhängigkeit von psychischen Variablen man in jenem Kontext vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte (siehe Kapitel 4): Es wurde gezeigt, dass die Ausschüttung des Darmpeptids Ghrelin nach der Nahrungsaufnahme, ein physiologisches Maß für Sättigung, gar nicht von der Nährstoffzusammensetzung, sondern von der Einstellung zum Essen („mindset“) abhängt. Unterschiedliche Überzeugungen durch die bereitgestellte Information zum kalorischen Inhalt des jeweils gleichen Milch-Shakes hatten signifikante Unterschiede der Ghrelin-Sekretion zufolge. Glaubten die Probanden, es handle sich um ein besonders hochkalorisches Getränk, erniedrigte sich die Ghrelin-Ausschüttung nach dem Trinken rasant. Währenddessen war ein relativ flacher Verlauf des Hormons bei derjenigen Gruppe zu verzeichnen, die überzeugt waren, etwas sehr leichtes konsumiert zu haben. Die Autoren gehen diesbezüglich von einer psychologischen Vermittlung der physiologischen Antwort auf die Nahrungsaufnahme aus. [14]
Für die Psychologie und auch die Biomedizin gelten zwei dominierende theoretische Modelle zur psychologischen Erklärung von Placebo-Effekten: Erwartung (expectancy) und klassische Konditionierung. [3] Es werden daneben aber auch noch viele weitere Mechanismen diskutiert: Lernen, Erinnerung, Motivation, Belohnung, Angst-Reduktion, somatischer Fokus etc. [6]
Beim Konstrukt der Erwartung geht es darum, dass der Proband oder Patient eine gewisse Erwartungshaltung hinsichtlich der ihm verabreichten Behandlung hat, ob diese wirken wird oder nicht. [15] Diese Erwartung kann relativ leicht, z.B. verbal, manipuliert werden. [16], [17], [Ref. 19, 21 in 3] Etwa der Hinweis durch die Studienleitung, es handle sich um ein wirksames Medikament, ermöglicht bereits effektiv eine Placebo-Antwort, ganz im Gegensatz zur gegenteiligen Information. Der Effekt von Erwartung wurde beispielsweise für Suchterkrankung und Parkinson sowie Schmerzlinderung untersucht. [Ref. 21-26 in 3] (Studienbeispiele dafür, wie die Modulation der Erwartungshaltung den therapeutischen Erfolg verbessern kann, finden sich in ebenso in [3, S. 7, Ref. 22, 94, 95]).
Beim Ansatz der klassischen Konditionierung (bekannt durch Pawlow) kann die wiederholte experimentelle Verknüpfung zwischen einem Stimulus und der Gabe aktiver Substanz nach einer kurzen Zeit dazu führen, dass der Stimulus allein (bzw. in Kombination mit einem inaktiven Placebo) den gewünschten physiologischen Effekt auslöst. Unsere vergangenen Erfahrungen mit Krankenhäusern, Tabletten, Spritzen und Ärzten konditionieren uns auf Heilung [18] (oder auch nicht). Dabei beschränken sich Placebo-Effekte nicht auf die bewussten Prozesse, wie z.B. Schmerzempfindung [19]; gerade unbewusst ablaufende Vorgänge lassen sich konditionieren, z.B. die des Immunsystems. Besonders eindrücklich wurde dies mit Immunsuppression gezeigt, sowohl bei Tieren [20], als auch bei gesunden Probanden [21] und Transplantationspatienten. [22]
Die jeweils kognitiven und konditionierten Prozesse finden nicht in Isolation voneinander statt, weshalb sich eine klare Differenzierung der unterschiedlichen Mechanismen und Konzepte schwierig gestaltet. [3] Wie das Expectancy-Modell und das der konditionierten (Placebo- bzw. Bedeutungs-) Antwort zueinander im Verhältnis stehen, ist ein Diskussionspunkt. [5]
Einerseits sprechen Experimente dafür, dass es sich um zwei verschiedene Entitäten handelt, weil diese jeweils mit völlig unterschiedlichen biochemischen Mechanismen assoziiert sind. [17], [23] Sie können aber auch miteinander kombiniert werden und führen so beispielsweise zu einer höheren Schmerzlinderung im Vergleich zur Erwartungskomponente allein. [17] Benedetti et al. schlagen vor, dass Erwartung mehr bei bewussten Placebo-assoziierten Funktionsveränderungen wie Schmerz oder Bewegungseinschränkung die dominierende Rolle spielt (auch bei zusätzlich vorhandener Konditionierung), während Konditionierung und nicht Erwartung bei unbewussten physiologischen Prozessen wie der Hormon-Sekretion involviert sein könnte. [16] Die Studie von Montgomery und Kirsch (1997) tendiert zur höheren Relevanz der Expectancy- im Vergleich zur Konditionierungstheorie. [24]
Andererseits hängen beide Mechanismen gleichermaßen mit Lernvorgängen zusammen und sind so vielleicht nicht wirklich trennbar: Die Effektivität von Konditionierung und der Erwartungshaltung hängt wahrscheinlich von der ersten positiven Erfahrung mit einem Placebo sowie vielen anderen, mitunter sozialen Lernprozessen ab, wodurch der Erfolg jeder weiteren Behandlung maßgeblich mitbestimmt wird. [3] Auch unterliegen beide Aspekte einer gegenseitigen Beeinflussung, sodass der zu untersuchende Mechanismus stets mit Sorgfalt identifiziert werden muss. Denn eine bewusste Erwartung kann durch Konditionierung und sonstige Informationsquellen moduliert werden, wobei in diesem Fall die Erwartung und nicht Konditionierung den Placebo-Effekt vermittelt, aber es gibt auch konditionierte Placebo-Reaktionen, die nicht auf jene Weise bewusst-kognitiv induziert werden. [25] Hieran zeigt sich ein recht komplexes, gar zeitliches Geflecht im Hintergrund jeder Bedeutungsantwort, dessen intrinsisch zirkuläre Verhältnismäßigkeit bei aller Differenzierbarkeit durch unterschiedliche biologische Signalwege allzu leicht übersehen wird. Auch auf psychologischer Ebene lässt sich der Placebo-Effekt also nicht einheitlich konzeptualisieren.
3. Probleme der vorherrschenden Ansätze und die Bedeutungsantwort aus Enaktiver Perspektive
Um die vorgestellten Mechanismen der Erwartung und Konditionierung bei Bedeutungsantworten besser als miteinander verschränkt verstehen zu können, gibt es theoretische Alternativen zu den herkömmlichen neurobiologischen und psychologischen Erklärungsansätzen, die von vornherein andere philosophische Grundannahmen treffen und so komplexe biopsychosoziale Zusammenhänge intelligibler machen können. [vgl. 18] An dieser Stelle ist kein Platz, um Phänomenologie und den sog. Enaktiven Ansatz in genügender Weise vorstellen und erklären zu können. Zum Thema Placebo-Effekt und Enaktivismus sei der Leser auf die Arbeit von Ongaro und Ward (2017) [18] verwiesen. Des Weiteren liefern Kaptchuk et al. (2009) [5] eine kurze Annäherung an einen phänomenologischen Ansatz [26] zum Thema Bedeutungsantwort. Letzterer ist gänzlich kompatibel mit [18], doch Ongaro und Ward betonen den zusätzlichen Erklärungsmehrwert ihres Enaktiven Ansatzes durch die Erweiterung um eine Körper und Welt umspannende adaptive Systemdynamik, als auch affektive und kulturelle Dimensionen, die dem typischen Verhältnis von Geist, Körper und Welt in Placebo-Reaktionen gerecht werden können. Anhand von Unzulänglichkeiten der vorherrschenden Modelle (Erwartung und Konditionierung) zeigt sich der Bedarf für eine andere Sichtweise:
Der Streit um die bessere Theorie, ob nun Erwartung oder Konditionierung hinreichende Bedingung für Placebo-Effekte, d.h. deren primärer Mechanismus ist, löst sich auf: Keiner der Ansätze für sich allein ist ausreichend. Was Konditionierung anbelangt, so lässt sich deren Involvierung in Bedeutungseffekten nicht immer nachweisen. Bei Moseley et al. (2002) beispielsweise zeigten Patienten nach ihrer Schein-Operation deutliche Verbesserungen, ohne dass sie vorher schon einmal Operationspatienten gewesen waren [27] in [18] (siehe Bedeutungskonzept von Moerman et al., siehe Kapitel 1.1, 1.2). Auch bei Kaptchuk et al. (2009) hatten die Patienten vorher noch nie Akupunktur erfahren und hatten wenn überhaupt eher schlechte Erfahrung mit dem Medizinsystem gemacht, sodass Konditionierung die positiven Effekte nicht erklären kann. [5] Ebenso waren weniger Erwartungen, als vielmehr „Verzweiflung“ und „Hoffnung“ adäquate Beschreibungen der Zustände der Patienten (auch wenn diskutiert werden muss, inwiefern jene mit dem Konstrukt der Erwartung zusammenhängen). [5] Kaptchuk et al. (2009) kommen zu dem Schluss, dass weder Erwartung noch Konditionierung und auch kein anderes Konzept der Placebo-Antwort für sich allein die Daten ihrer Studie in vollständiger Weise erklären könne. In Anbetracht der hohen Komplexität an Erfahrungen von Patienten erscheinen sowohl das Erwartungs- als auch das Konditionierungsmodell zu simpel. Ersteres benötigt reflektives, bewusst zugängliches Denken, während andere Erfahrungsdimensionen gar nicht inkludiert sind, und letzteres basiert lediglich auf den Variablen ‚gepaarter Stimulus‘ und ‚konditionierte Antwort‘. [vgl. 5]
Das herausstechende Problem des Expectancy-Konzepts ist die Mentalisierung des Placebo-Effekts: Es wird suggeriert, Placebo-Behandlungen hätten vor allem etwas mit Kognition und bewusster Reflektion zu tun. Dabei wird ein Placebo genau so erfahren, wie darüber nachgedacht und daran geglaubt wird. [vgl. 5] zu [26]; [vgl. 28] Erfahrung bezieht sich in der Phänomenologie (insbesondere Merleau-Ponty) auf eine leibliche Verstehensebene, bei der unabhängig von konzeptuellen und sprachlichen Inhalten auf Bedeutungen reagiert wird. [vgl. 26] Dies kann auch als ‚implizite Wahrnehmung‘ bezeichnet werden und geschieht jeweils vor bewusst-reflektivem Denken (‚explizit‘), als auch als Teil dessen. [vgl. 5], [28] Innerhalb der Expectancy-Theorie hingegen ist Erwartung eine rein kognitive Variable, die als reflektiv zugängliche konzeptuelle Repräsentation einer mechanisch-physiologischen Reaktion gilt, welche sie zugleich triggert. [vgl. 18], [vgl. 26] Problematisch für das Erwartungskonzept sind aber gerade jene Studien, welche aufzeigen, dass Placebo-Effekte ganz ohne die Involvierung von expliziten Erwartungen entstehen können, etwa durch Konditionierung. In dem Fall wird die gemessene Veränderung, z.B. Atemwegsdepression nach Opioid- sowie Placebo-Verabreichung [29], von den Patienten gar nicht bewusst bemerkt. [vgl. 18; siehe auch Jensen et al. 2012, 2015 in 18]) Denn wie kann man Erwartungen an eine Veränderung haben, von der man gar nichts mitbekommt.
Aus der Debatte geht hervor, dass die Einseitigkeit von Erklärungsansätzen auf der Suche nach Hauptmechanismen einem interaktiven Verständnis im Weg steht. Infolge wird der Placebo-Effekt auf biologischer und psychologischer Ebene aufgespalten: Es gibt dann den Erwartungseffekt, den konditionierten Effekt, den Opioid-Effekt, den Nicht-Opioid-Effekt usw., während weder das eine noch das andere dem gesuchten Konzept entspricht. Dieses wird rein empirisch wohl nie gefunden werden, wobei Philosophie allein auch nicht ausreicht. Deshalb wird besonders anhand des Placebo-Effekts der Bedarf für philosophisch informierte Forschung offenkundig.
In jedem Fall muss eine vereinheitlichende theoretische Annäherung an die Bedeutungsantwort diese irgendwo über bzw. zwischen Erfüllung von explizit bewussten Erwartungen und einer bloß konditionierten, beinahe automatisch ablaufenden physiologischen Reaktion ansiedeln. [vgl. 18] Tatsächlich konnte mit bisherigen Placebo-Theorien nicht die folgende einfache Frage beantwortet werden: Warum sollte meine Erwartung eine bestimmte Veränderung in meinem Körper herbeiführen können, während meine Erwartung an Elvis’ Erscheinung diesen nicht physisch manifestieren lässt? [18] (sieh hierzu auch Kapitel 4)
4. Zusammenführung
Voranschreitende biologische Untersuchungen haben Forscher dazu veranlasst, Placebo-Effekte mehr und mehr zu differenzieren. Bisher konnte kein biologischer wie psychologischer Mechanismus aufgezeigt werden, der jeder Placebo-Reaktion zugrunde liegt. Parallel herrscht immer noch eine gewisse Intuition darüber vor, dass jene Phänomene, die wir Placebo-Effekt nennen, irgendeine fundamentale Gemeinsamkeit haben müssen, die es zu entschlüsseln gilt. „From a biological perspective, there are multiple placebo effects. It remains an open question wether there is any common psychological mechanism that explains such effects.“ [2]. Wie sich aber zeigte, haben psychologische Theorien ihre Schwächen. Es scheint nichtsdestotrotz nach einer Erklärung gefragt zu werden, die nicht der rein materiellen Welt entspringt, und die dennoch den dualistischen Spalt zwischen Psyche und Körper überbrücken können soll. Das Konzept der Bedeutung ist ein anthropologischer Versuch, den Placebo-Effekt ganzheitlich als Bedeutungsantwort auszulegen. Der Fokus liegt nicht mehr auf dem, was verabreicht wird, sondern auf den vielfältigen Bedeutungen, die medizinische Behandlungen für uns haben und die nachweislich mit bewussten wie unbewussten körperlichen Veränderungen zusammenhängen. Egal auf welche Weise sich eine spezifische Bedeutung beim Individuum ausdrückt, ob als psychologische Erwartung oder an einen physiologischen Reiz gekoppelt, ob mit Beteiligung bestimmter Neurotransmitter und Gehirnregionen oder nicht, stets ist Bedeutung der ausschlaggebende Punkt. Doch leider wird in jenen Ansätzen selten dargelegt, was unter Bedeutung konkret verstanden wird. Ein Fehler wäre es jedenfalls, diese als im Geist erzeugt zu verstehen, weil man sich sonst erneut mit philosophischen Problemen konfrontiert sieht (siehe Kapitel 4).
Mehr und mehr kristallisiert sich das Bedürfnis heraus, komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Gesundheitsfragen des Menschen anzuerkennen. Dem kann nur mit einem neuen theoretischen Verständnis von Ganzheitlichkeit als Gegenbewegung zur mechanistischen Aufspaltung begegnet werden. Wenn Neurobiologen etwa davon schreiben, dass verschiedene soziale Stimuli wie Worte und therapeutische Rituale die Chemie und Verschaltung des Patienten-Gehirns verändern [8], befindet man sich auf einer neurozentrischen Insel inmitten des Körper-Geist-Problems (Kapitel 4) Egal wie viele Arten von Placebo- und Placebo-ähnlichen Effekten anhand verschiedenster Mechanismen entdeckt werden [7], und egal wie sehr sich psychosoziale pharmakologische Effekte im Gehirn ähneln [30], die Frage, wie sich Bedeutungen auf die Person als Ganzes auswirkt, kann aus der dualistischen und materialistischen Perspektive betrachtet nur ein Rätsel bleiben.
Weiterlesen mit Kapitel 4: Von „nur im Kopf“ zu „im Gehirn“: Placebo-Effekt und Neurozentrismus
Übersichtsseite: →Placebo & Placebo-Effekt
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Ein Gedanke zu „Der oder die Placebo-Effekte? Ein Problem vorhandener Erklärungsansätze“