Kapitel 1.3 aus der Beitragsreihe Placebo & Placebo-Effekt (→ Gliederung)
Die Bezeichnung Bedeutungsantwort anstatt Placebo-Effekt macht laut Schmidt und Walach (2016) erstmals offensichtlich, was eigentlich das wissenschaftliche Problem an einer Placebo-Wirkung ist: Dies ist kein geringeres als das philosophische Körper-Geist-Problem selbst. [1] Wie soll etwas zunächst rein psychisch-Verstandenes – Bedeutung – eine Veränderung in der materiellen, rein physikochemisch beschreibbaren Welt herbeiführen können? Hier drängt sich eine schwierige theoretische Frage auf, nämlich: Inwiefern sollte die Generierung von Bedeutung überhaupt in rein mentalistischen Termen, also nur in der Psyche lokalisiert, verstanden werden? Ungeachtet dessen besteht ein fundamentaler Mangel an Modellen und Konzepten, um zu einer wissenschaftlichen Beschreibung des Verhältnisses von kategorisch völlig unterschiedlichen Ebenen zu gelangen.
Das Körper-Geist-Problem ist das Problem der Verbindung von objektiv-biologischem Organismus und subjektivem Bewusstsein oder zwischen materiellem Gehirn und immateriellem Geist (Kapitel 4). Schmidt und Walach erinnern daran, dass selbst die detaillierteste kausal-mechanistische Kette physiologischer Prozesse methodisch niemals den ‚ersten Übergang‘ von geistigen zu physiologischen Zuständen erklären kann. Das ist analog zum völlig unaufgeklärten Problem, wie exakt die neuronale Aktivität des Gehirns zur Entstehung eines Gedanken beitragen soll. [1]
Die bekannte Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim erklärt den negativen Placebo-(‚Nocebo‘-)Effekt einer Herpes-Studie über eine solch verlockend plausible Kausalkette [2]: Der durch eklige Bilder hervorgerufene Ekel löse Stress bei den Herpes-Patienten aus, Stress wiederum führt über Stress-Moleküle zu Immunsuppression, weshalb die Herpes-Viren zuschlagen können. Klingt logisch, oder? So kann man einen Placebo-Effekt erklären. Oder was könnte hier das Problem sein?
Zunächst wird die negative Qualität einer Erfahrung auf nichts weiter reduziert als auf (physiologisch vermittelten) Stress. Selbst wenn jene biologische Kausalkette in all ihren molekularen und elektrochemischen Bestandteilen unendlich genau aufgeklärt würde, hat man trotzdem einen völlig unbegründeten Sprung von etwas Nicht-Physischem (Erfahrung des Ekels für die Person) zu etwas Physischem gemacht. Wie die ‚Übersetzung‘ zwischen Psyche und Körper genau ablaufen soll, wird gar nicht definiert. Es wird einfach behauptet, dass Ekel Stress auslöst. Was aber ist dann Ekel?
Wenn Ekel als ein Gefühl durch das Anschauen eines Fotos kausal eine körperliche Stressreaktion auslösen soll, was genau ist nun das Gefühl? Lautet die Antwort „Etwas Psychisches“, dann muss definiert werden, wie es überhaupt möglich ist, wie etwas, das ERLEBT wird, eine kausale Wirkung auf etwas Physisches haben soll, wo die physikalische Welt in sich kausal geschlossen ist (Kausalitätsbegriff). Lautet die Antwort „ein physiologischer Zustand“, in Übereinstimmung mit der naturwissenschaftlichen Antwort, dann muss darauf entgegnet werden: Wozu wird überhaupt noch das subjektive Gefühl des Ekels in der Kausalkette und in der Erklärung des Placebo-Effekts benötigt? Schließlich handelt es sich doch um biochemische Reaktionen im Körper. Hier wird der Bedeutungs- bzw. Erfahrungsaspekt eliminiert, in der Form des Eliminativen Materialismus. Diese philosophische Position bietet eine Lösung des Körper-Geist-Problems und ist Standpunkt der Naturwissenschaft.
Jedoch darf nun im Umkehrschluss nicht behauptet werden, ein GEFÜHL hätte die kausale Kette hin zur körperlichen Reaktion (Stress und dann Herpes) in Gang gesetzt. Es sei denn man möchte sagen, Gefühle SEIEN MOLEKÜLE. Wenn ja, woher kann der Wissenschaftler aber wissen, dass bei den Probanden der Herpes-Studie Ekel im Spiel war? Vermutlich, weil sie davon erzählen und womöglich das Gesicht verziehen? Aber warum sollte der Wissenschaftler den Probanden glauben, dass sie sich ekeln? Jedenfalls nicht, weil er zuerst Ekel-Moleküle gemessen hat. Vielmehr weil er Ekel selbst ERLEBT hat.
Bei Nguyen-Kim’s Argumentation, die viele andere mit ihr teilen, wird nicht nur ein Ekel-Erlebnis einfach so mit Stress-Molekülen gleichgesetzt, sondern der psychisch-qualitative Aspekt wird auch noch vollständig eliminiert: Die eigentliche Kausalkette beginnt tatsächlich erst bei der biologischen Stress-Reaktion, nicht beim ekligen Foto.
Doch dann dürfte man gar nicht vom Placebo-Effekt sprechen, da es sich ja um eine Stress-Antwort handelt. Dann spielt es für den Wissenschaftler auch keine Rolle, welche Art der Erfahrung zu einer körperlichen Stress-Reaktion führt (Ekel, Prüfung, Streit, Rennen zum Bus) solange ein Schwellenwert an Adrenalin, Cortisol etc. ausgeschüttet wird. Bedeutung bzw. der qualitative Erfahrungsaspekt wird auf diese Weise komplett umgangen, weil alles nicht-physikalisch-messbare über ‚Stress‘ als einem physiologischen Systemzustand abgehandelt wird. Dabei sollte es doch viel wichtiger sein herauszufinden, warum Placebo- und andere ‚psychosomatische‘ Effekte bei manchen Individuen auftreten und bei anderen nicht. Dieser Frage kann tatsächlich nur anhand Bedeutung, also via subjektiver Faktoren begegnet werden. Das wiederum reibt sich aber mit dem Objektivismus der Naturwissenschaft.
Ähnlich wie der negative Placebo-Effekt der Herpes-Studie werden so auch oft psychosomatische Phänomene ‚erklärt‘: Ein negativ-emotionales Ereignis ist immer mit Stress assoziiert und praktisch alle damit einhergehenden körperlichen Beschwerden (z.B. Migräne, Ausschlag, Herpes, Krebs etc.) lassen sich über die physiologische Beeinträchtigung irgendwie erklären. Aber erscheint es denn wirklich so plausibel, dass die ganze Vielfalt an Lebenssituationen und Erfahrungen, die uns nachweislich körperlich beeinflussen, einfach in einer bestimmten Ausprägung der Stressantwort (Menge und Kombination ausgeschütteter Moleküle, Reaktionsdauer, Rezeptor-Sensitivität etc.) ‚verschlüsselt‘ ist, welche unsere Körpermaschinerie anschließend ausliest? Für viele scheint das eine gute Erklärung zu sein. Ähnlich können auch all die Feinabstufungen unserer Gefühle, Stimmungen und Emotionen als nichts weiter als all jene unterschiedlichen Moleküle (Serotonin, Dopamin, Oxytocin etc.) sowie deren spezifisches ‚Mischverhältnis‘ verstanden werden.
So sehr sich das Stress-Konzept auch anbietet: Man kann es nicht einfach verwenden, wenn es gerade zum Beispiel passt, wie im Fall der Herpes-Studie [2], und dann glauben, so wäre die prinzipielle Funktionsweise von Placebo- und psychosomatischen Effekte erklärt. Wenn der psychische Aspekt einer Erfahrung (das Gefühl des Ekels) unbegründet eliminiert wird, kann später nicht behauptet werden, erklärt zu haben, wie etwas Psychisches eine körperliche Veränderung bewirken kann – oder wie der Placebo-Effekt funktioniert.
Also, warum den Placebo-Effekt nicht einfach als das sehen, was er ist, nämlich ein reales und offensichtliches Paradebeispiel des Körper-Geist-Problems. Allein die häufige Beschreibung des Placebo-Phänomens als ‚rätselhaft‘, ‚wundersam‘, ‚sonderbar‘ und ‚mysteriös‘ (Tabelle 1 in Einleitung) sollte eigentlich schon ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass es sich hier um eine grobe Lücke in unserem vermeintlich allumfassenden kausalen Erklärungsparadigma physikochemischer Mechanismen handelt. Die Rätselhaftigkeit einer Sache kann als Einladung verstanden werden, seine Perspektive zu ändern.
In Zweigen der Philosophie und Kognitionswissenschaften wurde das Körper-Geist-Problem längst zum Anlass genommen, theoretische Ansätze jenseits von Dualismus und Materialismus zu erarbeiten, die der Ganzheit des Menschen als körpergeistlichem Organismus eher gerecht werden. Dagegen sind Medizin und Biologie leider noch nicht so weit. Ongaro und Ward argumentieren, dass die erstaunliche Wirksamkeit des Placebo-Effekts nur aus der naturwissenschaftlich geprägten Perspektive der Biomedizin rätselhaft ist, und dass die Verwirrung aus einer bestimmten westlichen Denkweise zum Verhältnis des Geistes zum Körper und zur Welt stammt. [3]
Rein biomedizinische Ansätze können und müssen weiterhin dort angewandt werden, wo sie angebracht sind und am schnellsten zum Erfolg führen. Jedoch gibt es Tatbestände innerhalb von Krankheit und Gesundheit des Menschen, die sich der aktuellen, paradigmatisch geforderten ‚Allzweckbehandlung‘ durch die Biomedizin entziehen. Gerade psychosomatische und psychobiologische Phänomene sind mit dem physikochemischen Kausalmodell nicht erklärbar. So wird auch keine langfristige Verbesserung für den Patienten erreicht. Wenn eine bestimmte Herangehensweise zu keiner befriedigenden, d.h. vollständigen und nicht in hohem Maße reduktionistischen Erklärung führt, wie es bei den genannten medizinischen Aspekten meistens der Fall ist, sollten vielleicht besser andere existierende theoretische Bezugssysteme in Betracht gezogen werden. Wenn in der Medizin das Patienten-Wohl an erster Stelle steht, und es nicht nur darum geht, blind einem Dogma zu folgen, sollte das doch im Interesse des menschlichen Forschergeistes stehen.
Weiterlesen mit Kapitel 2: Der Placebo-Effekt kann (nicht) durch andere Effekte erklärt werden und wird (nicht) in „Placebo-Studien“ untersucht
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[1] S. Schmidt & H. Walach „Making Sense in the Medical System: Placebo, Biosemiotics, and the Pseudomachine“, in F. Goli, Hrsg. Biosemiotic Medicine: Healing in the World of Meaning, Springer International Publishing, 2016, S. 195–215
[2] Placebo extrem: Der Nocebo-Effekt | Mai Thi Nguyen-Kim, Terra X Lesch & Co (https://www.youtube.com/watch?v=giYDHZV5Y-k, aufgerufen am 03.03.2022)
[3] G. Ongaro & D. Ward „An enactive account of placebo effects“, Biol. Philos., 32:4, S. 507–533, 2017