„Ist ja nur Placebo!“ – Zur konzeptuellen Missverständlichkeit von Placebo & Placebo-Effekt inmitten des Körper-Geist-Problems (Einleitung)

Was lernt man durch YouTube über den Placebo-Effekt und was könnte das Problem daran sein?

„Homöopathie wirkt NICHT über den Placebo-Effekt HINAUS!!!“, ruft Jan Böhmermann in seiner satirischen und 4,5 Mio. mal aufgerufenen ZDFneo-Folge empört und mit komödiantischer Wiederholung. [1] Etwas sachlicher, dafür jedoch nicht weniger kritisch äußert sich auch Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem bekannten wissenschaftsjournalistischen, szientistisch anmutenden Kanal maiLab zum Verkauf von Homöopathie, indem sie anhand der nicht nachgewiesenen Wirksamkeit über den Placebo-Effekt hinaus argumentiert. Ganz unabhängig davon, dass alternative Heilmethoden ein sehr kontroverser Spaltpunkt in der modernen Gesellschaft sind, zeigt sich anhand dieser durch die YouTube-Landschaft vorangetriebene Debatte etwas grundlegendes: Erstens scheint die Einnahme (oder anderweitige Applikation) von therapeutischen Präparaten egal ob mit oder ohne aktiven physikochemischen Wirkmechanismus einen sehr hohen Stellenwert in unserer Kultur zu haben. Zweitens zeichnet sich ein Bild davon ab, was heute ein sehr großer Anteil der zumindest internetaffinen Allgemeinheit offenbar mit dem ominösen Placebo-Effekt verbindet.

Jeder hat schon mal von Placebos und dem Placebo-Effekt gehört. Für viele ist es der wundersame Beweis, dass Glaube Berge versetzt, für andere hingegen ein wertloser Störfaktor auf dem Weg zur Entwicklung richtiger Medikamente. Der Placebo-Effekt hat seit Langem gezeigt, wie wichtig eine positive Atmosphäre zwischen Arzt und Patient ist und dass bereits ein empathisches Gespräch ausschlaggebend für die Leidensminderung sein kann, einem Hauptanliegen der Medizin. Dass jene zwischenmenschlichen Aspekte im Gesundheitswesen durch ihren empirisch belegten Nutzen mehr fokussiert werden sollten, würden tatsächlich weder Pharma- oder Homöopathie-Verfechter noch deren Skeptiker widersprechen. Man kann sich darauf einigen, dass der Placebo-Effekt in seinen Vorzügen gezielt erforscht und eingesetzt, aber auch nicht überschätzt werden sollte. Aber gibt es über das Wie, Warum und Wozu hinaus nichts weiter zu sagen? Denn uns interessiert die Funktionsweise, die evolutionäre Daseinsberechtigung und der gesellschaftliche Nutzen. Währenddessen wird sich zu wenig darüber Gedanken gemacht, was der Placebo-Effekt eigentlich ist.

Um herauszufinden, was die internetaffine Allgemeinheit so ungefähr über ein bestimmtes Thema weiß, lohnt sich ein Blick auf YouTube. Denn längst liest man sich keine langatmigen Wikipedia-Einträge mehr durch, wenn man sich mal kurz über etwas informieren will, da heute zu beinahe jedem Thema konsumfreundliche und mundgerechte, Aufmerksamkeitsspanne-schonende Video-Clips existieren. Und tatsächlich stößt man in den ersten Suchergebnissen zu „Placebo-Effekt“ [2-13] auf Aussagen, die so zwar durchaus der standardmäßigen Fachliteratur entnommen sein können, jedoch die Sache nur oberflächlich und z.T. missverständlich darstellen. Aus einer solchen Recherche (Tabelle 1 unten) nimmt man grob folgendes mit:

Ein Placebo ist eine Verabreichungsform wirkungsloser Substanz oder aucheine vorgetäuschte Behandlung, die auf seltsame Weisedennoch einen therapeutischen Effekt auslöst, den Placebo Effekt. Dieser ist ein noch nicht ganz aufgeklärtes Mysterium, der aber irgendwie mit dem Gehirn zu tun hat.

Welche Annahmen verbergen sich prinzipiell hinter einer solchen Auffassung? Welchen Hinweis geben die Assoziationen „wirkungslos“, „vorgetäuscht“, „mysteriös“, und „Gehirn“ auf die Missverständlichkeit und die allgemeine kulturelle Bewertung des Placebo-Effekts?

Etwaige Probleme an jener und ähnlichen Beschreibungen des Placebo-Effekts mögen für den Großteil der Informationssuchenden irrelevant sein. Allerdings wird oft vergessen, dass es sich bei vielen wissenschaftlichen Begriffen nicht um irgendwelche absoluten Gegebenheiten in der Welt handelt, mit denen man nach Belieben um sich werfen kann. Vielmehr sind es vielseitig definierbare Konzepte innerhalb eines spezifischen theoretischen und empirischen Kontexts, aus dem sie oft nicht so einfach herausgelöst werden sollten. Während sich in der Allgemeinbevölkerung die wenigsten der großen konzeptuellen Problematik zum Placebo-Phänomen innerhalb der Wissenschaft selbst bewusst sind, werden bestimmte Perspektiven unter der YouTube-Zuschauerschaft weiter bekräftigt, die womöglich von vorneherein unhinterfragt sind. Nicht selten wird der Placebo-Effekt zur Bewertung unterschiedlichster Überzeugungsstandpunkte eingesetzt, sei es zur Selbsthilfe für die ‚Macht des Geistes über den Körper‘ oder zum ‚Debunking‘ Alternativer Medizin (siehe Zusatzbeitrag). Dies alles steht jedoch einer gezielteren Erforschung dessen im Weg, was das Paradebeispiel des Körper-Geist-Problems erst so interessant macht.

Was gibt es also über Placebos und den Placebo-Effekt konkret aufzuklären? Was wird in einem geläufigen, informativen YouTube-Video, wie z.B. „5 Missverständnisse über den Placebo-Effekt“ [2] oder „Die Neurowissenschaft hinter dem Placeo-Effekt“ [3] dem Format geschuldet nicht angesprochen?

Bevor in den folgenden Kapiteln ein klareres Bild über die konzeptuelle Problematik geschaffen wird, zeigt Tabelle 1 unten eine Auflistung einzelner, potentiell inkorrekter oder missverständlicher Aussagen, die so einer zufälligen YouTube-Recherche [2-13] entnommen werden können. Ziel ist hierbei nicht Kritik an den wissenschaftsjournalistischen Videos selbst, deren Inhalte für eine effiziente und interessante Informationsdarbietung bewusst oberflächlich gehalten werden müssen. Unter Aussparung zahlreicher ebenso unproblematischer Erläuterungen dienen jene Auszüge, welche der in den Folgekapiteln vorgestellten Fachliteratur tendenziell widersprechen oder ein zweifelhaftes Verständnis implizieren, lediglich als Index für ein fiktives allgemeines Wissen. Die davon abgeleiteten Annahmen und Notionen geben einen Hinweis darauf, was einer spezifischen, kulturellen Bewertung des Placebo-Effekts zugrunde liegen mag.

Tabelle 1: Problematische Aussagen zum Thema Placebo (P) und Placebo-Effekt (PE) aus YouTube (9 [2-10] von 12 [2-13] ausgewählten Videos, jeweils unter 18 min, durchschnittlich 9 min; Aussagen ggf. aus dem Englischen übersetzt). Problem-Kategorien: (A) inkorrekte oder sehr problematische Aussage. (B) Konzeptuell problematische Aussage und eine potentiell problematische Vorstellung vom Thema implizierend. (C) Durch Wortwahl Hinweis auf gesellschaftliche Konnotationen zum Thema. Tabelle als PDF ansehen durch Klicken …

Abgesehen von Kategorie A, deren inkorrekte oder problematischen Inhalte in den Kapiteln 1 – 6 aufgeklärt werden, soll der Leser sich folgende Frage zu stellen: Was ist obigen Aussagen gemeinsam? Welchen generellen Eindruck hinterlässt die Inspektion der Kategorien B und C? Wie würde man den Placebo-Effekt daraufhin verstehen oder zumindest gedanklich einordnen?

Weiterlesen mit Kapitel 1: Ein Placebo verursacht nicht den Placebo-EffektKapitel 1.1: Was ist der Placebo-Effekt (nicht)?

Übersichtsseite: →Placebo & Placebo-Effekt

Disclaimer

Die auf diese Einleitung folgende Gesamtanalyse und Diskussion stützt sich größtenteils auf fünf wissenschaftliche Papiere zum Placebo-Effekt, die nicht systematisch, sondern zufällig ausgewählt wurden: Moerman und Jonas 2002 [14], Miller und Kaptchuk 2008 [15], Finniss et al. 2010 [16], Kaptchuk und Miller 2015 [17], Schmidt und Walach 2016 [18]. Diverse weitere empirische Studienbeispiele werden zur Erläuterung angeführt und stammen meistens aus jenen Übersichtsarbeiten. Sofern nicht anders angegeben wurde sich diesbezüglich auf das Urteil der genannten Autoren verlassen, ohne selbst die einzelnen experimentellen Ergebnisse auf deren Methodik hin zu überprüfen (z.B. Teilnehmerzahl, Replikation der Studie, vollständige Angabe methodischer Details, Plausibilität der Interpretation usw.). Die vorliegende Arbeit spiegelt einen gewissen Wissensstand der Autorin wider und deckt lediglich bestimmte Aspekte der Thematik weder vollständig noch in absolut fehlerfreier Weise ab.

Quellenangaben

[1] Homöopathie wirkt* | NEO MAGAZIN ROYALE mit Jan Böhmermann – ZDFneo, ZDF MAGAZIN ROYALE (https://www.youtube.com/watch?v=pU3sAYRl4-k, aufgerufen am 22.02.2022)

[2] 5 Missverständnisse über den Placeboeffekt, maiLab (https://www.youtube.com/watch?v=ESMooFO0aaY, aufgerufen am 22.02.2022)

[3] The Neuroscience Behind the Placebo Effect, BrainFacts.org (https://www.youtube.com/watch?v=REaiu-7wRvs, aufgerufen am 22.02.2022)

[4] Der Placebo Effect, Sprouts Deutschland (https://www.youtube.com/watch?v=sfvctq2vvrA, aufgerufen am 22.02.2022)

[5] The power of the placebo effect – Emma Bryce, TED-Ed (https://www.youtube.com/watch?v=z03FQGlGgo0, aufgerufen am 22.02.2022)

[6] How The Placebo Effect Tricks Your Brain, Be Smart (https://www.youtube.com/watch?v=JcPwIQ6GCj8&t=133s, aufgerufen am 22.02.2022)

[7] The Placebo Effect, Stanford Medicine (https://www.youtube.com/watch?v=udJ31KKXBKk, aufgerufen am 22.02.2022)

[8] Why does the placebo effect work?, The Royal Institution (https://www.youtube.com/watch?v=gm02Oid8sbs, aufgerufen am 22.02.2022)

[9] Placebo extrem: Der Nocebo-Effekt | Mai Thi Nguyen-Kim, Terra X Lesch & Co (https://www.youtube.com/watch?v=giYDHZV5Y-k, aufgerufen am 22.02.2022)

[10] The Placebo Effect: Mind Over Matter, Aperture (https://www.youtube.com/watch?v=joAai_E8ndo&t=751s, aufgerufen am 22.02.2022)

[11] 3 bizarre placebo effect examples & the neuroscience behind why It happens, Lauren Kress, The Business Scientist (https://www.youtube.com/watch?v=4suQ8DybrhE, aufgerufen am 22.02.2022)

[12] Harnessing the power of placebos, TEDMED (https://www.youtube.com/watch?v=WcQnSW1wpGA, aufgerufen am 22.02.2022)

[13] The PLACEBO EFFECT: Shockingly Effective!, Christy Risinger, MD (https://www.youtube.com/watch?v=iWff441mbwM, aufgerufen am 22.02.2022)

[14] D. E.  Moerman & W. B.  Jonas „Deconstructing the Placebo Effect and Finding the Meaning Response“, Ann. Intern. Med., 136:6, S. 471-476, 2002 (An der Definition war ebenso H. Brody beteiligt, siehe z.B. H. Brody & D. E. Moerman „Symbolic and meaningful dimensions of the placebo effect.“ In Placebo and Nocebo Effects: Developing a Research Agenda Conf., Bethesda, 1996)

[15] F. G. Miller & T. J. Kaptchuk „The power of context: reconceptualizing the placebo effect“, J. R. Soc. Med., 101:5, S. 222–225, 2008

[16] D. G. Finniss et al. „Biological, clinical, and ethical advances of placebo effects“, The Lancet, 375:9715, S. 686–695, 2010

[17] T. J. Kaptchuk & F. G. Miller „Placebo Effects in Medicine“, N. Engl. J. Med., 373:1, S. 8–9, 2015

[18] S. Schmidt & H. Walach „Making Sense in the Medical System: Placebo, Biosemiotics, and the Pseudomachine“, in Biosemiotic Medicine: Healing in the World of Meaning, F. Goli, Hrsg. Springer International Publishing, S. 195–215, 2016

Ein Gedanke zu „„Ist ja nur Placebo!“ – Zur konzeptuellen Missverständlichkeit von Placebo & Placebo-Effekt inmitten des Körper-Geist-Problems (Einleitung)“

Kommentar verfassen