Untersucht die Biologie als ‚Lebenslehre‘ tatsächlich Leben?
Anstatt der Synthese des Lebendigen in seiner komplexen Ganzheit funktioniert die moderne Biologie über eine Fragmentierung lebender Organismen in ihre molekularen Einzelteile. Folglich besteht ihre größte Errungenschaft in der Entdeckung der vermeintlich kleinsten Bausteine des Lebens, des ‚Codes des Lebens‘ – der DNA. Je mehr wir die technologische Herrschaft über die Mechanismen der Biomaschinerie erlangen, desto weniger scheinen wir etwas von der Bedeutung des Lebens zu verstehen. [1]
„Die Materialisten beschränken sich darauf, die Beziehungen zwischen den materiellen Teilen in der Umwelt, d.h. den Merkmalen, zu erforschen. Die Psychologen neigen dazu, sich auf die immateriellen Merkzeichen und ihre Beziehungen untereinander zu beschränken. So bleibt es den Biologen überlassen, sich mit den schwierigsten Beziehungen, nämlich zwischen dem immateriellen Merkzeichen und dem materiellen Merkmal, abzufinden. Diese Beziehungen philosophisch zu begründen, ist nicht die Aufgabe der Biologie. Ihr obliegt nur, die Bedeutung dieser Beziehungen für das Leben der Tiere darzulegen. […] Wer dagegen die Beziehungen der Teile innerhalb eines materiell gegebenen Körpers zu untersuchen unternimmt, forscht bereits nach einem immateriellen Faktor. Denn die Beziehung selbst ist niemals materiell vorhanden, sondern ist nur ein immaterielles Band, das die materiellen Teile zu einem Ganzen verbindet“. (J. v. Uexküll [1931] 1980, S. 325) [2]
Der hier durch Uexküll beschriebene Aspekt des Körper-Geist-Problems sollte in der sog. Biosemiotik integriert werden, einer ‚reichhaltigeren‘ [3], aber in Deutschland kaum mehr vertretenen Biologie, welche die Grenze von Natur- und Geisteswissenschaften transzendiert [4]. Dafür legte Uexküll einen ausschlaggebenden Grundstein.
Aber was ist denn eigentlich Leben in den sog. Lebenswissenschaften? In den Life Sciences/Biowissenschaften – dazu zählen u.a. (Bio-)Medizin, Biochemie, Pharmazie oder Biophysik – herrscht unzweifelhaft ein extrem reduzierter Lebensbegriff vor, der in erster Linie etwas mit physischer Organisation und Signalweiterleitung zutun hat. Leben als fundamentales Prinzip an sich kommt nämlich überhaupt nicht vor. So unterscheiden sich die Biowissenschaften bzgl. ihrer Forschungsansätze kaum von den Methoden zur Erforschung toter Materie bzw. menschengemachter Technologie. Man kann somit in Frage stellen, ob die Lebenswissenschaft ihren Namen eigentlich verdient. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Experte des römischen Reichs nicht erklären kann, was das römische Reich ist. Die mechanistische Biologie beschreibt organische Vorgänge ohne Leben. [5]
Was ist Leben und wie kommt Leben in die Welt?
Wie es überhaupt dazu kommen kann, dass das Lebendige ein Rätsel ist, das in den physiko-chemischen Begriffen lebloser Materie beschrieben werden muss, darüber schreibt der Philosoph Hans Jonas in Das Prinzip Leben: [5]
Daß es Leben gibt, und wie so etwas in einer Welt bloßer Materie möglich ist, das ist jetzt das Problem, das dem Denken aufgegeben ist. Die Tatsache selbst, daß wir uns heute mit dem theoretischen Problem des Lebens statt des Todes auseinandersetzen müssen, bezeugt den Status des Todes als des natürlichen und sich selbst erklärenden Zustands. [...] Das Leben als Problem nehmen heißt [...], seine Fremdheit in der mechanischen Welt, die die Welt ist, bekennen; es erklären heißt - auf dieser Stufe der universalen Todesontologie - es verneinen, es zu einer Variante der Möglichkeiten des Leblosen machen. Die mechanistische Theorie des Organismus ist eine solche Verneinung, wie der Grabeskult und sein Glauben an das Fortleben eine Verneinung des Todes war. […] nicht mehr wie ist der Tod, sondern wie ist das Leben in die Welt, die leblose gekommen? Sein Ort in der Welt ist nun reduziert auf den Organismus - eine problematische Sonderform und -ordnung der ausgedehnten Substanz. In ihm allein treffen sich res cogitans und res extensa, 'denkendes' und 'ausgedehntes' Sein, nachdem sie erst in zwei ontologische Sphären auseinandergerissen wurden, von denen nur die zweite 'Welt' ist und die erste nicht einmal zur Welt gehört. Ihr Sich-Treffen im Organismus wird so zum unlösbaren Rätsel. [...] Leben auf das Leblose zu reduzieren ist nichts anderes, als das Besondere in das Allgemeine, das Zusammengesetzte in das Einfache und die anscheinende Ausnahme in die beglaubigte Regel aufzulösen. Ebendies ist die Aufgabe, die der neuzeitlichen Lebenswissenschaft, der Biologie, durch das Ziel der 'Wissenschaft' als solcher gesetzt ist. [...] Demnach ist heute der Leichnam der am ehesten verständliche unter den Zuständen des Körpers. Erst im Tode wird der Leib rätsellos: in ihm kehrt er von dem rätselhaften und unorthodoxen Benehmen der Lebendigkeit zu dem eindeutigen und 'vertrauten' Zustand eines Körpers innerhalb der gesamten Körperwelt zurück, deren allgemeine Gesetze der Kanon aller Begreiflichkeit sind." (H. Jonas 1977, S. 29-31) [5]
Tatsächlich ist der monistische Materialismus der Biowissenschaften ein Residuum des Dualismus, also des klassischen Körper-Geist-Problems:
"Die künstliche Isolierung von res cogitans und res extensa, unter Ausschluß des 'Lebens', in der Erbschaft des Dualismus [...] schafft Probleme, die sie zugleich unlösbar gemacht hat. [...] Wenn die Materie als tot auf der einen Seite gelassen wurde, müßte doch das auf der andern Seite dagegen abgehobene Bewußtsein [...] das Repositorium, ja das Destillat des Lebens sein. Aber dieses verträgt keine Destillation; es ist irgendwo zwischen den gereinigten Aspekten - in ihrer Konkretion. Die Abstraktionen selber leben nicht. In Wahrheit [...] ist das reine Bewußtsein sowenig lebendig wie die ihm gegenüberstehende reine Materie, dafür auch ebensowenig sterblich. Es lebt, wie abgeschiedene Geister leben, und kann die Welt nicht mehr verstehen. Ihm ist auch die welt gestorben, so wie es der Welt. Die dualistische Antithese führt nicht zur Steigerung der Lebenszüge durch ihre Konzentrierung auf einer Seite, sondern zur Abtötung beider Seiten durch ihre Trennung von der lebendigen Mitte." (H. Jonas 1977, S. 42f) [5]
Wenn die beiden abstrakten Konstrukte Körper und Geist in mir selbst auf irgendeine Weise zu einem lebendigen Ganzen vereint sind, sollte Leben somit in der „Mitte“, also irgendwo dazwischen verortet sein.
Was liegt zwischen mir und der Welt?
"Das große Geheimnis tierischen Lebens liegt genau in der Lücke, die es zwischen unmittelbarem Anliegen und mittelbarer Befriedigung offenzuhalten vermag, d. h. in dem Verlust an Unmittelbarkeit, dem der Gewinn an Spielraum entspricht." (H. Jonas 1977, S. 187) [5]
Jener Spielraum ist somit ein Dazwischen, das uns mit unserer Umwelt verbindet und gleichzeitig von ihr trennt.
Aber wie sieht es nun aus, wenn wir diese Welt einschließlich des sich darin befindlichen Lebens wissenschaftlich untersuchen wollen, wo wir als Wissenschaftler doch selbst untrennbar mit dieser verbunden sind? Wie kann ‚Bewusstein‘, ein ausschlaggebender Aspekt meiner Lebendigkeit, überhaupt objektiv beschrieben werden, wenn es erst die Bedingung dafür ist, Wissenschaft betreiben zu können?
Für das angenommene Verhältnis von Beobachter und Welt gibt es zwei Extrempositionen, die jeweils gleichermaßen unpassend sind. Die eine geht von einer absoluten Trennung der beiden aus (Objektivismus), die andere von einer absoluten Abhängigkeit der Welt vom Subjekt, welches diese sozusagen konstruiert (Subjektivismus): [6]
"The observor that a nineteenth-century physicist had in mind is often pictured as a disembodied eye looking objectively at the play of phenomena. Or to change metaphors, such an observor could be imagined as a cognizing agent who is parachuted onto the earth as an unknown, objective reality to be charted. Critiques of such a position, however, can easily go to the opposite extreme. The indeterminacy principle in quantum mechanics, for example, is often used to espouse a kind of subjectivism in which the mind on its own “constructs” the world. But when we turn back upon ourselves to make our own cognition our scientific theme—which is precisely what the new science of cognition purports to do—neither of these positions (the assumption of a disembodied observor or of a disworlded mind) is at all adequate." (F. Varela, E. Thompson, E. Rosch [1991] 2017, S. 4) [6]
Daher wird in einer phänomenologisch ausgelegten Richtung der modernen Kognitionswissenschaften die Notion eines Dazwischen („entre-deux“) des Phänomenologen Merleau-Ponty als eine radikale Alternative („an der Wurzel“, von lat. radix) zu Subjektivismus und Objektivismus verstanden:
"[...] in reflection we find ourselves in a circle: we are in a world that seems to be there before reflection begins, but that world is not separate from us. For the French philosopher Maurice Merleau-Ponty, the recognition of this circle opened up a space between self and world, between the inner and the outer. This space was not a gulf or divide; it embraced the distinction between self and world, and yet provided the continuity between them. Its openness revealed a middle way, an entre-deux." (F. Varela, E. Thompson, E. Rosch [1991] 2017, S. 3) [6]
Einen solchen Alternativweg schlagen die Biowissenschaften jedenfalls nicht ein, sodass sie zwangsläufig zu einem Selbst- und Weltverständnis beitragen, das dem Wesen des Menschen nicht gerecht wird.
Hierzu passt: Das Subjekt in Medizin und Biologie im Zusammenhang mit psychosomatischer Stigmatisierung.
[1] vgl. L. Onnis „Psychosomatic medicine towards a new epistemology“, Fam. Sys. Med., 11:2, S. 137, 1993 („In biology, the fragmentation of living organisms into increasingly minute components has led to the discovery of the basis of life—the genetic code; but, at the same time, an understanding of the meaning of life has been lost.“)
[2] zitiert aus [4]: J. v. Uexküll Der Organismus und die Umwelt in T. v. Uexküll, Hrsg. Kompositionslehre der Natur: Biologie als undogmatische Naturwissenschaft; ausgewählte Schriften, Ullstein, [1931] 1980, S. 305-343; S. 325
[3] K. Kull „Thomas A. Sebeok and biology: Building biosemiotics“, Cybernetics & Human Knowing, 10:1, S. 47-60, 2003
[4] D. Frank Der Topos der Information in den Lebenswissenschaften: Eine Studie am Beispiel der Biosemiotik und der Synthetischen Biologie. Springer Fachmedien Wiesbaden, 2019, S. 62
[5] H. Jonas Das Prinzip Leben, 1. Aufl. Suhrkamp, 1977, S. 211, S. 29-31, S. 42f, S. 187
[6] F. J. Varela, E. Thompson, E. Rosch The embodied mind, Revised Edition: Cognitive science and human experience. MIT press, [1991] 2017, S. 3-4