Es scheint relativ selbstverständlich zu sein, dass Wissenschaft in die einschlägigen Fächer sowie hunderte von Sub-Disziplinen untergliedert ist. Wie denn auch sonst? Konform mit unserer liebsten Art zu denken, dem Denken in Kategorien, ist vielleicht auch gar keine andere Form der Wissenschaft möglich. Als ‚geordnetes Wissen‘ begann sie mit Klassifikation, wie etwa bei der Linnaeus’schen Systematik der Arten. [1] Die Klassifikationen wurden schließlich zu universalen Erklärungsprinzipien ausgeweitet. Aber wird dies den untersuchten Phänomenen, z.B. in der Biologie, überhaupt gerecht?
Man könnte es kaum besser als Hans Jonas [2] ausdrücken:
"Das Phänomen des Lebens selber verneint die Grenzen, die gewohnheitsmäßig unsere Disziplinen und Arbeitsfelder trennen." (Hans Jonas, 1977, S. 11) [2]
Doch ist nicht die sinnvollste Strategie zur gesellschaftlichen Wissensvermehrung, eine unendliche Zahl an Experten spezifischer Fachkategorien mit einer je unendlich kleinen Teilmenge an Einzelwissen über die Welt aneinander zu reihen und all deren Daten aufzusummieren? Ist nicht die Vollständigkeit eines Bildes die Summe aus jedem einzelnen Pixel?
Wie der Kybernetiker Stafford Beer in den 80ern schrieb, ist dies ein philosophisches Erbe, das mit einer entsprechenden Weltansicht einhergeht [1]: Die zu analysierenden Systeme sind Kompositionen aus Einzelteilen, deren übergeordnete Verbindungsprinzipien nicht kategorisierbar sind. Doch eine solche Zerstückelung zerstört grundsätzlich das System als solches, so wie analog die Anatomie des menschlichen Körpers nur anhand des toten Körpers verstanden werden kann. Je mehr zergliedert wird, desto unmöglicher wird es, Ganzheiten zu sehen und deren intrinsische Relationen zu verstehen. Die Folge ist, dass jene Beziehungen mitunter vollständig geleugnet werden. [1] Sind es dabei nicht ebenjene Relationen und Strukturprinzipien, welche den Kleber für die von uns ausgestanzten Puzzleteile darstellen? Wer nicht glauben will, dass Ganzheiten zugunsten des Teilbaren vernachlässigt werden, muss sich nur einmal mit psychosomatischen Diskussionen auseinandersetzen.
Die Kategorisierung in den Wissenschaften führt zu unendlich spezialisiertem Experten-Wissen, das eine gewisse Sicherheit vermitteln mag, dabei aber mit verhängnisvollen Einschränkungen bzgl. des Verständnisses von Ganzheiten und Interaktion verbunden ist:
"It is an iron maiden, in whose secure embrace scholarship is trapped. [...] The number of papers increases exponentially, knowledge grows by infinitesimals, but understanding of the world actually recedes, because the world really is an interacting system." [1]
Aber was soll denn überhaupt die Rede von einem starren Fächer-Denken in den Wissenschaften, schließlich gibt es doch Interdisziplinarität. Und die gilt als ausgesprochen relevant!
Beer bezieht sich gezielt auf die sog. interdisziplinären Studien, die heute quasi an jeder Universität in entsprechenden interdisziplinären Forschungsinstituten durchgeführt werden. Es gibt u.a. deshalb kein obligatorisches Studienfach ‚Interdisziplinarität‘, weil gar nicht klar ist, wie und durch wen so etwas gelehrt werden sollte.
"... an 'interdisciplinary study' often consists of a group of disciplinarians holding hands in a ring of mutual comfort. The ostensible topic has slipped down the hole in the middle." [1]
Interdisziplinäre Studien können somit genauso verfehlend sein wie die Kategorien der isolierten Disziplinen, aus denen sie hervorgehen. Zumindest wenn es um Fragestellungen geht, die eine übersystemische Synthese erfordern: Anstatt die alten Kategorien nur miteinander zu verknüpfen, müssen diese transzendiert werden. [1]
Genau einen solchen metasystemischen Ansatz sah Beer in dem revolutionären Werk Autopoiesis & Cognition: The realization of the living von Humberto Maturana und Francisco Varela, in dem es um das Verständnis der Organisation lebender Systeme im Verhältnis zu ihrer charakteristischen Einheitlichkeit geht. [1]
Es handelt sich laut Beer bei Autopoiesis & Cognition eben gerade nicht um Interdisziplinarität, im Sinne einer Kombination verschiedener Ansätze. Denn da das Buch etwas mit Biologie, Kybernetik, Psychologie und Epistemik gleichermaßen zutun habe, müsse man es demzufolge eigentlich als eine Arbeit im Feld der ‚Psychocyberbioepistemics‘ bezeichnen.
In nicht ganz unähnlicher Weise deutet das Forschungsfeld der Psychoneuroendokrinoimmunologie (!) auf den schon lange bestehenden Bedarf einer systemischen Beschreibung von medizinischen Phänomenen hin. Allein der Name impliziert, dass wir uns eine solche Forschung wohl noch gar nicht anders vorstellen können, als über eine Kombination von Einzeldisziplinen, weil sich in unserer Denkweise der Mensch aus einer Psyche, einem Nervensystem, einem Hormonsystem und dem Immunsystem zusammensetzt.
Hierzu passt: Sorgenkind Psychoneuroimmunologie – Der Weg zu einem neuen Bezugssystem.
[1] vgl. S. Beers Vorwort in: H. R. Maturana & F. J. Varela Autopoiesis and cognition: The realization of the living. Vol. 42 Springer Science & Business Media, [1980] 2012, S. 91ff
[2] H. Jonas Das Prinzip Leben, 1. Aufl. Suhrkamp, 1977, S. 11