Was kommt Dir in den Sinn, wenn Du die Worte ‚Homöopathie‘ und ‚Placebo-Effekt‘ hörst?
Doch zunächst: Ein Placebo ist standardmäßig definiert als eine Verabreichungsform inaktiver Substanz ohne physikochemischen Wirkmechanismus, kann aber auch eine simulierte medizinische Behandlung sein. Herkömmlich wird der Placebo-Effekt deshalb als diejenige Reaktion verstanden, die vom Placebo ausgelöst wird. ‚Ausgelöst‘ sollte hier aber nicht kausal verstanden werden, sondern besser als ‚notwendig bedingend‘, wobei sich die Frage ergibt, durch welche nicht-physikochemischen Placebo-Aspekte die Placebo-Effekte hervorgebracht werden.
Forschungen haben erwiesen, dass der psychosoziale Kontext einer therapeutischen Behandlung, genauer dessen vielseitige Bedeutung für die involvierten Personen, ausschlaggebend für Placebo-Effekte ist. Weniger bewusst ist den meisten, dass diese Faktoren sogar für einen nicht unbeträchtlichen Anteil der Wirksamkeit pharmakologisch aktiver Medikamente verantwortlich gemacht werden können. [1] Ebenso sind sich viele auch nicht darüber im Klaren, dass die Konzeptualisierung des Placebo-Effekts innerhalb der Fachliteratur selbst schon immer problematisch und verwirrend war: Denn ein inertes Placebo, eine ‚unwirksame‘ Behandlung, kann per Definition überhaupt nichts bewirken. Dies entspricht aber gerade der traditionellen Definition des Placebo-Effekts. Dabei sind es nicht Placebos, worauf die festgestellten psychobiologischen Reaktionen zurückgehen, sondern die Bedeutungen, die ein psychosoziales Umfeld und besonders die Medizin mit all ihren assoziierten Symbolen und Ausprägungen in unserer Kultur haben. [2] Bereits der Name ‚Placebo-Effekt‘ ist missverständlich. Aus diesem und anderen Gründen haben die meisten Menschen eine völlig falsche Vorstellung von Placebo-Effekten (siehe Einleitung, Tabelle 1). „Placebo effects are often considered unworthy and illegitimate. They are thought to be unscientific and caused by bias and prejudice.“ [3]
Anstatt nun aber in diesem Beitrag zu versuchen, die falschen Vorstellungen aufzulösen oder gar Alternativen zu anzubieten (siehe bisherige Beiträge zum Thema), soll vorliegend lediglich ein kleiner Ausschnitt eines aktuell stattfindenden gesellschaftlichen Prozesses beleuchtet werden, der mit ziemlicher Sicherheit zu deren Verfestigung beiträgt. Denn für eine sinnvoll geführte Forschungsarbeit in eine produktive Richtung erweist sich die Aufklärung von Missverständlichkeiten rund um das Placebo-Phänomen als angebracht. Es wäre zumindest nicht hilfreich, sollte der Großteil einer modernen Gesellschaft dieses Phänomen unbewusst oder bewusst in der Nähe unwissenschaftlichen Humbugs verorten. Zwar würden wohl die wenigsten den Placebo-Effekt ausdrücklich als solchen bezeichnen, doch unter der Oberfläche herrschen doch häufig gewisse Vorurteile vor: Allein dass der Placebo-Effekt für einige bloß das ist, was bei pharmakologischen ‚Placebo-Studien‘ (randomisiert-kontrollierte Studien) herausgerechnet werden muss, um die ‚echte‘ Wirksamkeit von wichtigen Medikamenten zu belegen, vermittelt ein ausreichend gutes Bild der Lage. „Medicine has used placebos as a methodologic tool to challenge, debunk, and discard ineffective and harmful treatments.“ [3] Und in Konsequenz werden Placebo-Effekte fälschlich mit RCT-Studiendesigns in Verbindung gebracht, die zu deren Erforschung völlig ungeeignet sind. Da ist es nicht verwunderlich, wenn Placebo-Effekte in Folge wenig ernstgenommen und im besten Fall als einfach nicht besonders interessant erachtet werden. Aber warum ist es für die Wissenschaft des Placebo-Effekts – selbst in adäquaten Experimentdesigns – überhaupt relevant, was außerhalb dieser über ihn für Meinungen vorherrschen?
Im Unterschied zur professionellen, akademischen Wissenssphäre höchstspezialisierter Themen gibt es ebenso ein laienhaftes Allgemeinverständnis, das wir zu großen Teilen aus populärwissenschaftlichen Darstellungen beziehen und uns gegenseitig weitererzählen. Diese Form des notwendig verkürzten Populärwissens verdient allein deshalb schon Beachtung, weil es in seiner stark anschaulichen Form letztendlich wieder einen Einfluss auf die wissenschaftliche, wenig anschauliche Spezialforschung ausübt (dies entspricht der Theorie des Wissenschaftstheoretikers und Immunologen Ludwik Fleck [4]).
Wir sind daher – ob wir wollen oder nicht – mit unseren laienhaften oder auch akademisch geprägten Vormeinungen Träger eines gesellschaftlich geformten Allgemeinwissens, das von ‚der Wissenschaft‘ alles andere als abgetrennt ist, sondern als Teil eines komplexen sozialen Prozesses wechselseitigen Beeinflussungen unterliegt. Daher ist es für die wissenschaftliche Praxis alles andere als egal, wie sich das Allgemeinverständnis bestimmter Themen entwickelt.
Gerade für den Fall, dass sich jemand noch nie wirklich über den Placebo-Effekt informiert hat und es auch zukünftig nicht mit ernstem Interesse vorhat, darf heutzutage durchaus folgende Frage gestellt sein: In welche Richtung lenken einflussreiche Medien-Persönlichkeiten (wie etwa Jan Böhmermann von ZDF Neo oder Mai Thi Nguyen-Kim von MaiLab) die Assoziationen v.a. jüngerer Generationen zu noch nicht genug erforschten und daher in bestimmter Hinsicht wenig verstandenen Phänomenen, wie dem Placebo-Effekt? Insbesondere, wenn diese populären Medienportale kritische Sichtweisen unter einem Schutzmantel von Satire oder ‚im Namen der Wissenschaft‘ forcieren? Im Folgenden soll kritisch dargestellt werden, wie leicht sich negative Assoziationen zum Placebo-Effekt auf indirektem Wege bilden können:
In zwei unabhängigen YouTube-Videos hat Böhmermann den Verkauf von Homöopathie sowie von CBD-‚Lifestyle-Produkten‘ ausdrücklich kritisiert und ins Lächerliche gezogen, praktisch mit der jeweils gleichen Begründung, dass für das eine wie das andere keine Wirkung über den Placebo-Effekt hinaus belegt sei. [5][6] Eine Botschaft, die nun beim unaufmerksamen Zuschauer hängen bleiben könnte, ist folgende: Weil X im Gegensatz zu Y nur durch den Placebo-Effekt wirkt, ist X weniger wirklich als Y, womit der Verkauf von X Betrug ist. Der Placebo-Effekt hat also irgendetwas mit Wertlosigkeit und Täuschung zu tun.
Dass die Unterstellung dieser modellhaften Assoziationskette nicht weit hergeholt ist, lässt sich am besten an einer Gegenreaktion auf eines der Videos aufzeigen: „CBD ist kein Placebo, lieber Jan Böhmermann“, von hanfnah TV. Genaugenommen zielte Böhmermann in seinem kritisch-satirischen Video gar nicht explizit auf CBD in höheren, medizinischen Konzentrationen ab, sondern auf die Vermarktung und Anpreisung niedrig-dosierter ‚Lifestyle-Produkte‘, v.a. durch Influencer. Ungeachtet dessen macht die verärgerte und defensive Antwort des Hanf- und CBD-Spezialisten deutlich, dass die bloße Verbindung einer Sache wie CBD mit dem Placebo-Effekt jene Sache degradiert, etwa in ihrer generellen Glaubwürdigkeit. Daneben ist es eine ganz eigene Diskussion, ob CBD je nach Dosierung über den Placebo-Effekt hinaus physikochemische Wirksamkeit aufweist oder nicht. Es geht für die vorliegenden Zwecke lediglich darum zu zeigen, welche Vorurteile, d.h. untergründige Annahmen, zum Thema Placebo-Effekt bei der ganzen kulturellen Debatte hervortreten.
Das Folgende sind die paraphrasierten und kommentierten Aussagen des Hanf-Fachmannes:
1) Es könne sich nicht einfach nur um Placebo-Effekte handeln, wenn CBD so vielen Menschen erwiesenermaßen helfe. [7] Umformuliert, die im Fall von medizinischem CBD so hohe Zahl positiver Ergebnisse und Erfahrungsberichte macht deren überproportionale Rückführbarkeit auf Placebo-Effekte unwahrscheinlich. Was versteht man aber hierbei unter dem Placebo-Effekt, um diese Aussage zu machen? Eigentlich muss die unausgesprochene (bzw. nicht reflektierte) Annahme im Hintergrund lauten, dass es sich beim Placebo-Effekt um so etwas wie eine Lüge oder um eine Art hysterischer Einbildung handelt, die noch dazu als statistisch selten zu erachten ist. Doch erstens handelt es sich beim Placebo-Effekt erwiesenermaßen nicht um Hysterie, Vortäuschung oder die reine Einbildung einer körperlichen Veränderung. Zweitens um nichts, dass durch eine hohe Anzahl an Fällen statistisch unwahrscheinlich würde. Drittens, natürlich kann auch die Einbildung oder Vorstellung einer Wirkung Patienten helfen und dies kann bei manchen Placebo-Effekten eine verstärkende Rolle innehaben.
2) Wenn CBD sogar für Epilepsie bei Kindern als funktionierende Arznei angewandt würde, dann brauche man doch wirklich nicht mehr von Placebo sprechen, wenn CBD „bei so einer heftigen Nervenkrankheit wie Epilepsie eine starke Linderung der Leiden“ bewirkt. [7] Hier lautet die Annahme im Grunde, dass Placebo-Effekte bei ‚richtigen‘ Krankheiten entweder überhaupt keine Rolle spielen können oder zwar vielleicht unterstützend wirken, aber in verschwindend geringem, vernachlässigbarem Anteil. Auch das entspricht nicht dem Forschungsstand.
3) Auch führt hanfnah TV im Video das Endocannabinoidsystem an, um die ‚Echtheit‘ der CBD-Wirkung zu untermauern. [7] (Zum Problem des geglaubten Ausschlusskriteriums biomechanistischer Vorgänge für ein bestimmtes Verständnis von ‚Wirklichkeit‘, siehe Kapitel 4.) Dazu soll nur erwähnt sein, dass das Endocannabinoidsystem interessanterweise auch für die Funktionsweise von Placebo-Effekten diskutiert wird. [z.B. 8] Doch spätestens hier würden sich wieder schnell die verschiedenen konzeptuellen Erklärungsebenen vermischen und bisher ist alles andere als aufgeklärt, welche biochemischen Mechanismen überhaupt allen Placebo-Effekten gemeinsam sein könnten. Dies ist auch ein Grund, warum es aus biologischer Sichtweise keinen Sinn macht, von ‚dem‘ Placebo-Effekt als einem einheitlichen, umfassenden Konzept zu sprechen (siehe Kapitel 3).
Nichtsdestotrotz ist natürlich nachvollziehbar, welche Absichten das Antwortvideo an Böhmermann von hanfnah TV verfolgt. Es werden ein durchaus wichtige Punkte zum Thema medizinisches CBD angesprochen, weshalb man sich das Video ruhig einmal ansehen sollte. Aber was den Wissensstand zum Placebo-Effekt angeht, so sind sich hanfnah TV und Böhmermann wahrscheinlich gar nicht so unähnlich in ihren Ansichten.
Jetzt zu Böhmermann und einem seiner anderen Videos: „Homöopathie wirkt* [*nicht über den Placebo-Effekt hinaus]“ [5]. Wenn Homöopathie allein auf ihren pharmakologisch inaktiven Gehalt reduziert wird, was macht dies dann aus deren Verkauf? Betrug. Und was macht es aus der großen Zahl an Käufern in Deutschland – laut ZDF Neo ganze 60%? Eigentlich kann es sich doch nur um Idioten handeln. Oder, insbesondere im Fall des scheinbar so hohen Anteils an Nutzern mit einem höheren Bildungsabschluss, sogar um eine ‚asoziale‘ Oberschicht, deren ‚Sucht‘ nach den teuren, aber wirkungslosen ‚Globuli‘ von allen anderen mitfinanziert würde und noch dazu Schuld daran habe, dass alle anderen um jede noch so kleine und weitaus wichtigere Krankenkassenleistung zu kämpfen hätten. [5]
Zuallererst steckt allein in Böhmermanns Titel schon einiges, was das Thema Placebo-Effekt oder auch Homöopathie schwierig und undurchsichtig macht. Wenn letztere anhand von ersterem wirkt, dann ist es nicht überraschend, dass Menschen dafür bezahlen. Idioten wären sie doch nur, wenn es überhaupt keine Wirkung gäbe. Hier allerdings zeigt sich das wichtige Problem des Begriffs Wirkung. Eine nichtpharmakologische Wirkung scheint für die meisten ein logischer Widerspruch zu sein – ist es aber nicht. Sie haben nur einen viel zu engen Wirkungsbegriff (Stichwort: physikalische Ursache-Wirkung). Der eigentliche Widerspruch besteht in der falschen Vorstellung vom Placebo-Effekt: Eine Wirkung, die gar keine ist/sein dürfte.
Und auch ohne Homöopathie zu befürworten kann man Böhmermanns satirische, d.h. keinesfalls nur harmlos lustig gemeinte Wutrede – selbst bloß unter dem Vorwand des Unterhaltungszwecks für ziemlich spaltend und kontraproduktiv befinden. (Dabei ist es natürlich Böhmermanns Absicht, zu provozieren und zu polarisieren.) Doch ist die Lust am Hohn über die Dummheit der Mitmenschen befriedigt und die anmaßende wie unreflektierte Identifikation mit einer erhöhten Gruppe der wissenschaftlich Aufgeklärten einmal vollzogen, hat sich jede Tür verschlossen, um einem offensichtlich wenig allgemeinverständlichen Thema wie dem Placebo-Effekt noch mit einem Mindestmaß an Neugierde, Offenheit und Forschergeist zu begegnen. Zwar würde mancher hier vielleicht einwenden, dass sich doch über Homöopathie beklagt wird und nicht über den Fakt des Placebo-Effekts an sich. Jedoch ist hier genau aufzupassen: Die Homöopathie-Kritik funktioniert allein deshalb, weil sie sich des Placebo-Effekts und gewisser tendenziöser Assoziationen bedient. Daraufhin negative Folgen für dessen Verständnis und v.a. zukünftige Forschungsförderung zu behaupten und zu befürchten, womöglich übergreifend auf damit verknüpfte Sachgebiete, ist überhaupt nicht unberechtigt. Abgesehen davon lassen sich einflussreiche Medienportale mit der Hauptaufgabe (bzw. einem leichten Einschlag von Wissenschaftsjournalismus; ob ZDF Neo dazu zählt, sei dahingestellt) auch insofern kritisieren, inwiefern sie eigenständiges Nachdenken und Lernbereitschaft in der Bevölkerung fördern. Oder ist dieser Zug längst abgefahren? In Anbetracht der Medienmacht YouTube und ihren zugehörigen Algorithmen ist ein solches Ziel eher zu bezweifeln.
Zugegeben, es ist viel leichter, sich über die Einstellung Andersdenkender lustig zu machen und Weltbilder bestätigt zu bekommen, als wirklich etwas Neues zu lernen. Wir alle geben uns diesem Laster ab und an mal hin und können nicht jedes Urteil kritisch auf den Prüfstand stellen. Wir wollen manchmal auch einfach nur innerhalb unserers Meinungskreises unterhalten werden. Aber: Dies muss in einem kontrollierten Rahmen geschehen und darf sich nicht mit ernsthaften Diskussionen, etwa über so etwas sensibles wie medizinische Forschung, vermischen. (Sensibel aufgrund der oben erwähnten systemischen Zusammenhänge.)
Zurück an Böhmermann: Wenn nun die pharmakologische Unwirksamkeit der Homöopathie längst erwiesen und noch dazu kein Geheimnis ist, warum wird sie dann eigentlich trotzdem gekauft? Das ist eine Frage, die eine bessere Antwort verlangt als die, dass die 60% Käufer pauschal Idioten sind. Als wirklich ernst gemeinte Frage formuliert, eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten für neue Perspektiven. Und davon stellt es lediglich eine dar, warum und wie der berüchtigte Placebo-Effekt eigentlich funktioniert. Wenn der ‚Homöopathie-Schwindel‘ schon so ein ernsthaftes und vieldiskutiertes Problem ist – dass es immer häufiger als solches betrachtet wird, ist in der momentanen Internetlandschaft nicht zu übersehen – dann sollte man auch fragen, was dem Ganzen eigentlich zugrunde liegt. Doch interessiert das die Zuschauer von Böhmermann, maiLab & Co überhaupt? Höchstwahrscheinlich nicht. Würde man sie fragen, hätten sie sicher eine sehr starke Meinung zu Homöopathie. ‚Alles Quatsch, wirkt ja nicht über den Placebo-Effekt hinaus.‘ Und was ist der Placebo-Effekt? ‚Ist das nicht das, was Idioten für echte Wirkung halten?‘
Es mag offensichtlich klingen, aber es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei Homöopathie (alternativmedizinisches System) und Placebos (Scheinmedikamente/-behandlungen) sowie beim Placebo-Effekt (nichtpharmakologischer psychobiologischer Effekt durch Bedeutung) um völlig unterschiedliche Dinge und Phänomene handelt. Oft wird umgangssprachlich so gesprochen: ‚Homöopathie ist doch nur Placebo‘, (oder: ‚CBD ist kein Placebo‘) womit alle drei Sachverhalte schon fälschlich miteinander identifiziert wurden. Es ist nicht sicher, ob im Anschluss noch reflektiert wird, worüber konkret gesprochen und gestritten wird. Dies ist auch ein Grund für das negative Licht, dass die regelrechte Homöopathie-Abscheu auf das Phänomen Placebo-Effekt wirft.
Ein weiteres Beispiel, wie der Placebo-Effekt indirekt (ob beabsichtigt oder unwissend) zur Herabsetzung einer Sache in ihrem medizinisch-therapeutischen Wert vorgebracht wird, findet sich bei maiLab in einer vermeintlich positiven Randbemerkung zur Alternativen Medizin: „Genau hier liegt auch die große Stärke der alternativen Medizin: Deren vermeintliche Arzneimittel sind zwar pharmakologisch großer Quatsch, aber diese intensiven Gespräche mit den Patienten helfen bereits.“ [9] Das sagt erstens nichts anderes aus, als dass man sich, wenn überhaupt, den Wert der Alternativmedizin eben gar nicht anders erklärt, als über den Placebo-Effekt. Das Problem daran ist, dass so alle möglichen alternativmedizinischen Systeme (neben Homöopathie auch Naturheilkunde, Osteopathie, Ayurvedische Medizin usw.) allein auf den Placebo-Effekt reduziert werden, was oft nicht angemessen ist. Zweitens wird auch der Placebo-Effekt auf nichts weiter reduziert als auf wohltuende Gespräche, während das überaus große Spektrum an nonverbalen, sehr ‚placebomächtigen‘ Behandlungsmethoden unerwähnt bleibt. Und drittens ist hier wieder das bereits genannte Problem, dass man unter Wirkung nichts anderes als pharmakologische Wirkung versteht – eine andere Art der Wirkung könne es einfach nicht geben. Dann wiederum jedoch darf vom Placebo-Effekt überhaupt nicht als einer Wirkung gesprochen werden. Doch genau dies tut maiLab im zitierten Video, in dem sie vermeintlich wohlwollend Missverständnisse zum Placebo-Effekt aufklärt: „Die Wirkung des Placebo-Effekts ist echt.“ [9]) – wobei die Echtheit natürlich mit physikochemischen Mechanismen während der Placebo-Antwort gerechtfertigt wird.
In Antwort auf maiLabs Aussagen zur Alternativmedizin hat sogar ein Heilpraktiker kritisch vorgebracht, dass die Assoziation seines Berufs einerseits mit der kontroversen Homöopathie und andererseits mit ‚Wohlfühltherapie‘ eine falsche Vorstellung ist. Zwar helfe dem Patienten z.B. auch in der Physiotherapie erwiesenermaßen bereits die informative Aufklärung und Verständnisvermittlung seines Leidens (sog. Edukation), dies sei aber sinnvollerweise vom Placebo-Effekt abzugrenzen. [10] Und das ist auch ein Problem des heutigen Allgemeinverständnisses zum Placebo-Phänomen: Es werden alle möglichen nicht pharmakologischen Effekte, z.B. statistische Störeffekte, pauschal als Placebo-Effekt bezeichnet, obwohl dies nach wissenschaftlichem Stand nicht korrekt ist (siehe Kapitel 2).
Darüber hinaus ist es schade, dass durch maiLabs Wortwahl „pharmakologischer Quatsch“ tendenziös jegliche Neugierde zunichte gemacht wird, sich näher mit komplementärmedizinischen Wirkungen auseinanderzusetzen. Die Komplementär-Medizin (statt Alternativmedizin der seriösere Terminus, wenn der Anspruch von Ergänzung anstelle vollständigen Ersetzens der Schulmedizin durch alternative Heilmethoden betont sein soll), wird für maiLab scheinbar nur über den Placebo-Effekt ‚netter Gespräche‘ ansatzweise verständlich.
Fest steht: Die Definition von Placebos als wirkungslose Scheinmedizin und andere konzeptuelle Unklarheiten sind entscheidend für deren gesellschaftliche Interpretation und Bewertung (z.B. als unethisch, siehe Kapitel 4). Die Kritik an Homöopathie u.ä. wird darauf aufgebaut, dass eine Wirksamkeit über den Placebo-Effekt hinaus fehlt. In diesem Zuge wird schnell jede Heilpraxis und Komplementär-Medizin mit einem ‚lukrativen Handel mit pharmakologisch unwirksamen Substanzen‘ vergesellschaftet. Und wer würde nicht den Profit mit einer unwirksamen Arznei moralisch verurteilen? Dabei kommen untergründig Bilder von fahrenden Zauberern und Quacksalbern im Mittelalter auf, von dem sich das Volk mit Rauchwolken und Wundertinkturen belustigen und sich die Münzen aus der Tasche ziehen lässt. (Solch mythische, unbewusste Assoziationen sind heute durchaus präsenter als man denkt.) Dagegen könnte man sich auch vorstellen, der Placebo-Effekt hätte in einer Gesellschaft einen genauso hohen wissenschaftlichen und normativen Stellenwert wie biochemische Wirksamkeit, wäre mit genauso hohen Forschungsgeldern unterstützt. Wäre dann nicht weniger Placebo-Medizin mit Skepsis zu begegnen, sondern vielleicht eher Medikamenten hoher pharmakologischer Aktivität und ebenso hohen unerwünschten Wirkungen? Doch geht es im vorliegenden Beitrag überhaupt nicht um eine Gegenüberstellung von Homöopathie und Schulmedizin. Vielmehr geht es um die gedanklichen Verknüpfungen dessen, was wir uns unter Placebo-Effekten vorstellen. Diese verwenden wir, um uns über Homöopathie und Schulmedizin zu streiten, ohne aber einmal über Placebo-Effekte selbst zu diskutieren. Und das ist ein generelles Problem, dass sich mit Sicherheit auf viele andere Fachgebiete erstreckt.
Negative Assoziationen festigen sich schnell und sind ansteckend. Wer z.B. Komplementärmedizin nicht kennt und sich den entsprechenden Wikipedia-Artikel dazu durchliest, wird spätestens bei dem Begriff ‚Pseudowissenschaften‘ Alarmglocken hören und nichts weiter damit zu tun haben wollen. Dies ist ein etwas trauriges, aber verbreitetes Phänomen der heutigen Zeit: Sobald mit gewissen Framing-Begriffen in Verbindung gebracht, hat sich die ganze Sache erledigt, alles wird über einen Kamm geschert und es wird sich keine Mühe mehr gemacht, die eigenen Vormeinungen zu prüfen. Warum seine Zeit auch mit Humbug vergeuden? Dabei erweisen sich gerade achtsamkeitsbasierte Interventionen wie Meditation, Qi Gong oder sog. CAM-Techniken (u.a. Tai Chi, Musik, Physiotherapie, energetisches Heilen) als äußerst wirksam bei der Modulation der Stress-Reaktivität und Beeinflussung von Immunprozessen. [11][12][13] Ob man den Wert jener Methoden nun anerkennen möchte oder nicht, ob man ihre nichtpharmakologischen Wirkungen versteht, sei jedem selbst überlassen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass komplementäre Heilmethoden z.B. für Krebspatienten einen hohen Wert haben. [12] Manche werden vielleicht sagen, dass sie alternativmedizinischen Methoden überhaupt nicht ihren prinzipiellen Wert streitig machen wollen, dass diese nur eben im Vergleich zur richtigen Medizin, die eine Biomedizin und keine Bedeutungsmedizin ist, weniger wichtig und wirkungsvoll ist. Es darf hierbei nicht missverstanden werden, dass eine Verteidigung komplementärmedizinischer Paradigmen primär eine quantitative Rechtfertigung enthielte, denn dies ist per Definition das Gebiet der objektivistischen Wissenschaften. Auch wäre darin die Biomedizin aus diversen Gründen immer im Vorteil. Worum es geht, ist die Inklusion von Bedeutung, Subjektivität und Sinn in die Medizin überhaupt. (Wie man sieht, sind stets sehr viele Klärungen vorab nötig und immer zu wiederholen, um überhaupt miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie würden hier den Platz ausschöpfen; siehe z.B. diesen Beitrag oder andere.)
Letztendlich hilft es weder der psychoneuroimmunologischen Erforschung der oben genannten komplementärmedizinischen Interventionen bei chronischen Entzündungserkrankungen, noch der Erforschung des Placebo-Effekts an sich, wenn die Komplementär-Medizin inklusive der existierenden wissenschaftlich validen Befunde immer nur anhand des Placebo-Effekts heruntergespielt wird. Noch dazu wird dadurch eine Sache, die an sich schon recht unverständlich ist (andere Medizinsysteme als die Biomedizin) durch eine andere Sache ‚erklärt‘ oder besser abgefrühstückt, die man ebenso wenig versteht (nichtpharmakologische Wirkungen).
Abschließend, die tendenziell skeptische Einstellung in der Gesellschaft zum Placebo-Effekt verschleiert eine fundamentale Wahrheit der Medizin: [3] Das höchste Ziel der Medizin ist Heilung, und dies umfasst nicht nur Kuration und Krankheitsbekämpfung, sondern auch Symptom-Linderung und Komfort-Maßnahmen, wenn Heilung nicht möglich ist. Für den nicht seltenen Fall, dass kein Heilmittel zur Verfügung steht, sei es der letzte Auftrag der Medizin, unnötiges Leiden zu mildern. Vorzugsweise mit, aber selbst ohne effektive Medikation, führt unterstützende und aufmerksame Versorgung den Patienten in eine therapeutische Richtung der Hoffnung und einer Erfahrung des ‚Aufatmens‘. [3] Die Medizin war nie und ist auch heute nicht nur Naturwissenschaft. Wissenschaftsjournalistische Kanäle wie maiLab lassen das leider ganz gerne mal vergessen.
Zuallerletzt sei noch gesagt, dass es nicht darum geht, den Placebo-Effekt höher und mächtiger einzuschätzen, als er ist. Auch das ist eine problematische und häufige Tendenz in die genau entgegengesetzte Richtung (ein interessantes Thema für einen anderen Beitrag). Der vorliegende Beitrag soll einfach zum Nachdenken anregen, ob der Placebo-Effekt nicht vielleicht mehr hergeben könnte als nur ein erstes Erkennungszeichen für Humbug.
Anmerkung: Kommentare mit eigenen Statements von hanfnah TV, ZDF Neo, maiLab und Co. sind natürlich sehr gerne gesehen! 😉
Übersichtsseite: →Placebo & Placebo-Effekt
Quellenangaben
Hinweis: eine Auswahl, die an allen Stellen noch intensiver nachrecherchiert und um mehr oder bessere Studien ergänzt werden könnte. Aufgrund des Formats dieses Beitrags als Medienkritik haben die wissenschaftlichen Quellen hier eher verweisenden Wert.
[1] S. Schmidt & H. Walach „Making Sense in the Medical System: Placebo, Biosemiotics, and the Pseudomachine“, in F. Goli, Hrsg. Biosemiotic Medicine: Healing in the World of Meaning, Springer International Publishing, 2016, S. 195–215
[2] D. E. Moerman & W. B. Jonas „Deconstructing the Placebo Effect and Finding the Meaning Response“, Ann. Intern. Med., 136:6, S. 471-476, 2002
[3] T. J. Kaptchuk & F. G. Miller „Placebo Effects in Medicine“, N. Engl. J. Med., 373:1, S. 8–9, 2015
[4] L. Fleck Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Benno Schwabe, 1935
[5] Homöopathie wirkt* | NEO MAGAZIN ROYALE mit Jan Böhmermann – ZDFneo, ZDF MAGAZIN ROYALE (https://www.youtube.com/watch?v=pU3sAYRl4-k, aufgerufen am 17.08.2023)
[6] So wirkt Lifestyle-CBD wirklich (oder auch nicht) | ZDF Magazin Royale, ZDF Magazin Royale (https://www.youtube.com/watch?v=59PMxDtcwHk, aufgerufen am 17.08.2023)
[7] CBD ist kein Placebo, lieber Jan Böhmermann, hanfnah TV (https://www.youtube.com/watch?v=fM-yCzFzjYY, aufgerufen am 17.08.2023)
[8] F. Benedetti et al. „Nonopioid placebo analgesia is mediated by CB1 cannabinoid receptors“, Nat. Med., 17:10, 2011
[9] 5 Missverständnisse über den Placeboeffekt, maiLab, (https://www.youtube.com/watch?v=ESMooFO0aaY, aufgerufen am 17.08.2023)
[10] Heilpraktiker reagiert auf MaiLab’s „Heilpraktiker wissenschaftlich geprüft“, Tobias Hagedorn, (https://www.youtube.com/watch?v=cdGvmuheZAk&t=1833s, aufgerufen am 17.08.2023)
[11] J. K. Kiecolt–Glaser et al. „Stress Reactivity: What Pushes Us Higher, Faster, and Longer—and Why It Matters“, Curr. Dir. Psychol. Sci., 29:5, S. 492–498, 2020
[12] C. Schubert et al. „Dynamic Effects of CAM Techniques on Inflammation and Emotional States: An Integrative Single-Case Study on a Breast Cancer Survivor“, Integr. Cancer Ther., 20, 2021 (CAM: complementary and alternative medicine; z.B. Tai Chi, Musik, Physiotherapie, energetisches Heilen etc.)
[13] P. Grossman et al. „Mindfulness-based stress reduction and health benefits: A meta-analysis“, J. Psychosom. Res., 57:1, S. 35–43, 2004