Aufklärung konzeptueller Missverständlichkeiten in mehreren Beiträgen
Die folgende Gliederung verlinkt jedes veröffentlichte Kapitel dieser Beitragsreihe. Diese bauen prinzipiell aufeinander auf, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.
Die prägnantesten Aspekte findest Du ggf. direkt unter den Titeln als Diashow!
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0. Einleitung
Was lernt man durch YouTube über den Placebo-Effekt und was könnte das Problem daran sein?
Bildunterschrift aus Instagram:
Aus einer schnellen Internetrecherche und ein paar YouTube-Klicks nimmt man grob folgendes mit:
„Ein Placebo ist eine Verabreichungsform wirkungsloser Substanz oder auch eine vorgetäuschte Behandlung, die auf seltsame Weise dennoch einen therapeutischen Effekt auslöst, den Placebo Effekt. Dieser ist ein noch nicht ganz aufgeklärtes Mysterium, der aber irgendwie mit dem Gehirn zu tun hat.“
Welche Annahmen verbergen sich prinzipiell hinter einer solchen Auffassung? Welchen Hinweis geben die Assoziationen „wirkungslos“, „vorgetäuscht“, „mysteriös“, und „Gehirn“ auf die Missverständlichkeit und die allgemeine kulturelle Bewertung des Placebo-Effekts?
In der hier bald erscheinenden Themenreihe mit je einem Beitrag für jedes 1-3-seitige Kapitel soll aufgeklärt werden, was in einem typischen YouTube-Video zum Thema Placebo-Effekt (dem Format geschuldet) überhaupt nicht angesprochen oder zu oberflächlich bis ganz falsch dargestellt wird. Folglich werden bestimmte Perspektiven und negative Konnotationen weiter bekräftigt, während sich die wenigsten der großen konzeptuellen Problematik zum Placebo-Phänomen innerhalb der Wissenschaft selbst bewusst sind. Jeder glaubt genau zu wissen, worum es sich beim Placebo-Effekt handelt, wobei dieser nicht selten zur Bewertung der unterschiedlichsten Überzeugungsstandpunkte eingesetzt wird. Sei es für die ‚Macht des Geistes über den Körper‘ oder zum selbstgefälligen ‚Debunking‘ alternativer Heilmethoden. Dies alles steht der gezielten Erforschung dessen im Weg, was dieses Paradebeispiel des Körper-Geist-Problems erst so interessant macht.
* Quellen im Beitrag
1. Missverständlichkeit: Ein Placebo verursacht (nicht) den Placebo-Effekt
1.1: Was ist der Placebo-Effekt (nicht)?
Über schlechte und gute Definitionen
Bildunterschrift aus Instagram:
Das aktuelle, traditionelle Verständnis des Placebo-Effekts beruht auf einer Definition, die ein Problem hat: Sie ist unlogisch und daher nicht verständlich. In Folge muss man dem Placebo-Effekt zwangsläufig mit sehr viel Skepsis begegnen. Richtig erforscht werden kann er so jedoch nicht. Wie sich zeigen wird, herrscht einfach zu viel konzeptuelles Chaos.
Bevor man irgendetwas wissenschaftlich untersuchen kann, braucht es zuallererst ein Konzept. Eine Idee davon, wonach man eigentlich sucht. Keiner wäre je auf den Gedanken gekommen, schwarze Löcher im Weltraum zu erforschen, wenn so etwas komisches nicht schon vorher rein abstrakt auf dem Papier existiert hätte. Keiner kann Ergebnisse über etwas sammeln, ohne sich auf irgendeine Definition zu stützen. Ob diese besonders gut oder schlecht ist, spielt keine so große Rolle, solange die anderen ungefähr wissen, wovon man spricht. Meistens hat sich eine bestimmte Denkweise als Standard durchgesetzt. Sie ist dann kaum mehr aus den Köpfen zu bekommen, obwohl vielleicht längst jemand eine bessere Definition aufgestellt hat.
Die Stärke eines Konzepts hängt v.a. damit zusammen, wie viele Aspekte es von einem Phänomen in sich fassen kann. Um ein primitives Beispiel zu geben: Ist ein Vogel als ein fliegendes Tier definiert, wird der Wissenschaftler Krähen und Fledermäuse dem Vogel zuordnen, und Hühner dagegen nicht. Wenn er schließlich mehr und mehr Gemeinsamkeiten zwischen Huhn und Krähe, aber weniger zwischen Fledermaus und Krähe findet, wird er sich am Kopf kratzen und im besten Fall auf die Idee kommen, seine Definition durch neue Kriterien zu verändern. Er möchte seine Zeit schließlich nicht mit rätseln verbringen, sondern zielführend alle Vögel finden. Allein mit der ersten Definition wäre er nie auf die Idee gekommen, anstatt nur nach oben, auch mal nach unten zu schauen.
* Quellen im Beitrag
Bildunterschrift aus Instagram:
Das Standardkonzept des Placebo-Effekts, der ausgelöst wird von einem ‚wirkungslosen Placebo’, ist unlogisch, verwirrend und obendrein der Grund für die Kontroversen und Schwierigkeiten beim Verständnis dieses psychobiologischen Phänomens. So wird die Übertragung des aktuellen Wissensstands in die Klinik verhindert, und damit letztlich ernsthafte Verbesserungen.
Während der Effekt eines Medikaments/aktiver Therapie pharmakologisch/physiologisch erklärt wird, sind Placebo-Effekte in einer plausiblen Definition von Kaptchuk & Miller ‚Verbesserungen der Symptome des Patienten, die auf dessen Teilnahme an einer therapeutischen Begegnung mit den dazugehörigen Ritualen, Symbolen und Interaktionen zurückgeführt werden können.‘
Die physiologischen Veränderungen beim Placebo-Effekt werden also auf irgendeine Weise durch klinische und psychosozialen Umstände ausgelöst. Dieser medizinische Kontext kann alles umfassen, was zu einer typischen Behandlung gehört, ohne den physikochemischen Effekt einer ‚echten‘ Therapie mitzuzählen. Was ist damit gemeint?
Genaugenommen handelt es sich um all jene noch so kleinen Dinge, womöglich sogar unbewusste Assoziationen, deren Bedeutung im Zusammenhang mit einer Behandlungssituation erfasst werden kann. Ganz egal ob bei einer vorgetäuschten Intervention ohne inhärentes therapeutisches Vermögen oder einer Behandlung mit wissenschaftlich demonstrierter Wirksamkeit.
Ist ein vorbeifahrendes Auto während des Arzt-Besuchs relevant? Wie sieht es aus, wenn der Arzt plötzlich die Untersuchung abbricht und im Nebenzimmer beunruhigt mit seinem Kollegen tuschelt? Der ausschlaggebende Unterschied zwischen bloß anwesenden Umgebungsfaktoren und ‚Placebo-Faktoren‘ ist gerade die Bedeutung von etwas für jemanden.
Aber wie genau soll nun ‚Bedeutung‘ etwas körperliches bewirken können?
* Quellen im Beitrag
1.2: Der Placebo-Effekt und Bedeutungsfaktoren in der Medizin
Studienbeispiele
Bildunterschrift aus Instagram:
Haben zwischenmenschliche und nicht-menschliche Placebo-Faktoren verschiedene Bedeutungen für Patienten & Kliniker und folglich unterschiedlich hohe Auswirkungen auf Patienten? Wenn ja, woher kommen diese Bedeutungen eigentlich?
Der Placebo-Effekt umfasst physiologische, psychologische, objektive, subjektive, bewusste wie unbewusste Veränderungen beim Patienten, die infolge einer medizinischen Intervention auftreten. Anstatt auf pharmakologische/physische Wirkmechanismen wird der Placebo-Effekt auf den Kontext der medizinischen Behandlung zurückgeführt, genauer gesagt auf dessen vielfältige Bedeutungen. Um jenen diffusen ‚Kontext‘ wissenschaftlich greifbar zu machen, müssen diverse Aspekte auf ihre Effekte hin verglichen werden.
In einer Studie zum Reizdarmsyndrom wurde die therapeutische Wirkung von Placebo-Akupunktur ohne menschliche Interaktion, also des reinen Behandlungsrituals an sich, mit dem Effekt einer zusätzlich integrierten positiv-empathischen Arzt-Patienten-Interaktion verglichen. Ein typischer Ablauf innerhalb der Medizin kann aufgrund der Bedeutsamkeit jeglicher Art von ‚Ritualen‘ bereits etwas bewirken. Jedoch stellte sich die Qualität der zwischenmenschlichen Interaktion bei Kelley et al. als mit Abstand am effektivsten heraus, um den IBS-Patienten angemessene Erleichterung zu verschaffen. Sogar so stark, dass es dem Reizdarm-Medikament Alosetron ernsthaft das Wasser reichen könnte, dazu ganz ohne Verstopfung als unerwünschte Arzneimittelwirkung.
Vorschnelle und zu vereinfacht gedachte Folgeassoziationen wären nun:
1) Der Serotoninrezeptor-Antagonist Alosetron ist wohl kein gutes Medikament, weil es vermutlich nicht über den Placebo-Effekt hinaus wirkt.
2) Solange der Doktor nett ist und der ‚Wohlfühl‘-Aspekt stimmt, ist alles andere für den Placebo-Effekt egal.
* Quellen im Beitrag
1.3: Der Placebo-Effekt als Körper-Geist-Problem: Biologische Kausalketten erklären nichts
Philosophie
Bildunterschrift aus Instagram:
Was ist eigentlich das wissenschaftliche Problem an einer Placebo-Wirkung? Kein geringeres als das Körper-Geist-Problem.
Wie soll etwas rein psychisch-Verstandenes eine Veränderung in der materiellen, rein physikochemisch beschreibbaren Welt herbeiführen können?
Das Problem ist die Verbindung von objektiv-biologischem Organismus & subjektivem Bewusstsein, zwischen materiellem Gehirn & immateriellem Geist. Es besteht ein fundamentaler Mangel an Modellen & Konzepten, um das Verhältnis zweier kategorisch völlig unterschiedlicher Ebenen wissenschaftlich zu beschreiben.
Selbst die detaillierteste kausal-mechanistische Kette physiologischer Prozesse kann methodisch niemals den ‚ersten Sprung‘ von geistigen zu physischen Zuständen erklären. Analog ist genauso unklar, wie Neuronenaktivität zur Entstehung eines Gedanken beitragen soll.
Selten wird der Placebo-Effekt als das betrachtet, was er ist, nämlich ein reales, spürbares wie messbares Paradebeispiel des Körper-Geist-Problems. Allein die häufige Bezeichnung als ‚rätselhaft‘, ‚wundersam‘, oder ‚mysteriös‘ ist eigentlich nur ein Hinweis, dass es sich hier um eine Lücke in unserem scheinbar vollständigen Erklärungsparadigma handelt. Dabei kann Rätselhaftigkeit als Einladung verstanden werden, seine Perspektive zu ändern.
Laut Ongaro & Ward ist die erstaunliche Placebo-Wirksamkeit nur aus naturwissenschaftlich geprägter Perspektive der Biomedizin rätselhaft: Die Verwirrung stammt aus einer bestimmten westlichen Denkweise über das Verhältnis des Geistes zum Körper und zur Welt. In Zweigen der Philosophie und Kognitionswissenschaften wurde das Körper-Geist-Problem längst zum Anlass genommen, theoretische Ansätze jenseits von Dualismus und Materialismus zu erarbeiten, die der Ganzheit des Menschen als körperliches und geistiges Wesen gerecht werden. Von einer Anwendung solcher Ideen sind Medizin und Biologie leider weit entfernt.
* Quellen im Beitrag
2. Missverständlichkeit: Der Placebo-Effekt kann (nicht) durch andere Effekte erklärt werden und wird (nicht) in „Placebo-Studien“ untersucht
Was ist der Placebo-Effekt nicht? Von einer zu breiten, inflationären Fassung des Konzepts hin zu völlig unpassender Anwendung.
Bildunterschrift aus Instagram:
Wusstest Du, dass bei der Verabreichung von Medikamenten/sonstiger Therapien nur ein Bruchteil der gesamten Wirkung auf physikochemische Mechanismen zurückgeführt werden kann?
Bei einer Aspirin-Studie* machte der pharmakologische Effekt lediglich ¼ der schmerzlindernden Wirkung aus. Eine Meta-Analyse* hat gezeigt, dass bei verschiedensten Erkrankungen und Behandlungen nur 40% der Varianz des Therapieergebnisses auf einen kausalen pharmakologischen Effekt zurückgeht. Die übrigen 60% können durch alle möglichen Effekte erklärt werden, darunter Placebo-Effekte.
Der Großteil des Behandlungseffekts, der nicht von biochemischen Eigenschaften der Arznei kommt, kann nicht pauschal dem Placebo-Effekt zugeschrieben werden. Es muss zunächst methodisch ausgeschlossen werden, dass eine Verbesserung beim Patienten nicht besser durch andere Faktoren erklärbar ist, z.B. „natürlichen Verlauf“. Damit ist etwa gemeint, dass die Symptomatik oft mit hohen und niedrigen Phasen schwankt, und sich Probanden einer Studie/Patienten zum Zeitpunkt der Teilnahme/Untersuchung meist in einer eher hoch-symptomatischen Phase befinden. Mit der Zeit werden die Beschwerden ‚von allein‘ wieder besser, bis sie später wieder schlimmer werden können.
Der Placebo-Effekt ist aber etwas vollkommen anderes!
Man kann davon ausgehen, dass auch im normalen klinischen und Alltag-Setting nur ein kleiner Anteil tatsächlich auf physikochemische Interventionen zurückgeht. Dies ist schon deshalb bahnbrechend, gerade wenn man bedenkt, dass die meisten den Erfolg der Medizin fast ausschließlich auf naturwissenschaftlich beschreibbare Mechanismen zurückführen.
Das wird kaum thematisiert, obwohl jeder den Placebo-Effekt kennt.
Vielen ist es äußerst wichtig, eine ‚echte‘ Behandlung zu bekommen und nicht ‚nur‘ dem Placebo-Effekt zu erliegen.*
Aber ebendiese kulturelle Einstellung zur Medizin ist wohl auch notwendig für die Wirksamkeit des Placebo-Effekts.
* Quellen im Beitrag
Bildunterschrift aus Instagram:
Die Verwirrung darüber, was der Placebo-Effekt ist/nicht ist, kommt u.a. von der geläufigen Assoziation mit randomisiert-kontrollierten Studien (RCT) zur Prüfung neuer Therapien und deren ‚Placebo-Gruppen‘. Dabei sind RCT’s methodisch nicht auf die Erforschung des Placebo-Effekts ausgelegt und Probanden der Kontrollgruppen erhalten nicht mal unbedingt ein Placebo.
Um Placebo-Effekte gezielt zu identifizieren, d.h. von anderen Effekten abzugrenzen und unter verschiedenen Bedingungen zu testen, braucht es ein passendes Studiendesign.
Die sog. Open-Hidden-Experimente erweisen sich als vielversprechend, sowohl ethisch als auch als Beweis für Placebo-Effekte in der klinischen Praxis. Im Gegensatz zu RCT’s kann so auch die Interaktion von Placebo-Effekten und aktiven Substanzen erforscht werden.
Ausschlaggebend ist hierbei der Unterschied zwischen einer Medikamenten-Gabe vor den Augen des Patienten (Open: typisches Behandlungssetting) und einer verdeckten Gabe ohne Wissen des Patienten (Hidden): Der Proband ist etwa an eine automatisierte Infusion angeschlossen und weiß höchstens, dass er irgendwann eine Behandlung bekommt, ohne Interaktion mit einem Arzt o.ä. Dies minimiert die Bedeutungsdimension des medizinischen Kontexts, die Placebo-(besser Bedeutungs-)Effekte induziert.
(Ob die diesbezügliche Rede vom ‚Placebo-Effekt ohne Placebo‘ sinnvoll ist, ist eine andere Frage.)
So wurde jedenfalls auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass sogar das stärkste Schmerzmittel einen großen Anteil seiner Effektivität einbüßt, wenn es nicht im vollen Wissen des Patienten verabreicht wird.*
Das Ergebnis einer Therapie ist stets eine Kombination aus physiologischen Wirkmechanismen und dem medizinisch-psychosozialen Kontext, ohne den Medikamente oft gar nicht funktionieren.
Eine RCT-Studie kann sogar zu falschen Schlüssen führen: Ist eine Substanz besser als ein Placebo, gilt sie als guter Wirkstoff. Doch eine verdeckte Injektion kann dessen völlige Ineffektivität aufzeigen.*
* Quellen im Beitrag
3. Missverständlichkeit: Der oder die Placebo-Effekte? Ein Problem vorhandener Erklärungsansätze
Wie funktioniert der Placebo-Effekt?
Bildunterschrift aus Instagram:
Gibt es DEN Placebo-Effekt?
Wir gehen davon aus, bei all jenen physiologischen und/oder subjektiven Reaktionen auf den nicht-physikochemisch wirkenden Anteil medizinischer Behandlungen handelt es sich immer um den gleichen Vorgang.
Dabei sagen Neurobiologie und Psychologie etwas ganz anderes: Es gibt viele verschiedene Placebo-Effekte, weil es unterschiedliche Mechanismen gibt. (Bild 1-3) Das ist mal wieder verwirrend und problematisch. (Bild 4-6)
Aber was ist mit unserer Intuition, dass diese Phänomene doch irgend eine besondere Sache gemeinsam haben? Es scheint nach einer übergeordneten Erklärung gefragt zu sein, die nicht rein materieller bzw. psychologischer Natur ist und die den problematischen, dualistischen Spalt zwischen Psyche und Körper überwinden kann.
Das Konzept der Bedeutungsantwort ist ein anthropologischer Versuch, Placebo-Effekte ganzheitlich zu definieren. Der Fokus liegt nicht auf dem, was verabreicht wird, sondern auf den vielfältigen Bedeutungen, die Medizin für uns hat, welche nachweislich bewusste wie unbewusste körperliche Veränderungen herbeiführen. Dabei ist egal, auf welche Weise sich eine Bedeutung beim Individuum ausdrückt, ob als psychologische Erwartung oder an einen physiologischen Reiz gekoppelt, ob mit Beteiligung bestimmter Neurotransmitter und Gehirnregionen oder nicht.
Was hier noch fehlt ist eine philosophische Darlegung von Bedeutung, die man nicht einfach als ‚im Geist erzeugt‘ verstehen sollte. Ansatzmöglichkeiten gibt es bereits, z.B. in der Phänomenologie und im Enaktivismus. (Bild 7-8)
* Quellen im Beitrag
4. Missverständlichkeit: Von „nur im Kopf“ zu „im Gehirn“: Placebo-Effekt und Neurozentrismus
Wo findet der Placebo-Effekt statt?
Bildunterschrift aus Instagram:
Vor nicht allzu langer Zeit mag noch die Sichtweise verbreitet gewesen sein, etwas derart Rätselhaftes wie der Placebo-Effekt könne sich doch nur ‚im Kopf‘ abspielen.
Mit dieser Metapher ist gemeint, dass eine Sache anstatt mit ‚realen‘ physiologischen Zuständen mehr mit der ‚illusorischen‘ und ‚irrealen‘ Welt des Geistes, d.h. mit Vorstellungen, Überzeugungen, Gedanken, (un-)bewussten Täuschungen oder hysterischer Einbildung zu tun hat.
Passenderweise hat sich heutzutage aufgrund neurowissenschaftlicher und biomedizinischer Forschung die ebenso ‚kopflastige‘ Sichtweise durchgesetzt, Placebo-Effekte seien psycho-biologische Prozesse ‚im Gehirn‘.
Es wird sich zeigen, was diese zwei grundlegend verschiedenen Lokalisierungen miteinander zu tun haben. (→TEIL 2: Neurozentrismus beim Placebo-Effekt, Gründe & Probleme)
In diesem TEIL 1 geht es um den Wirklichkeitsbegriff beim Placebo-Effekt, der bei populärwissenschaftlichen, wissenschaftsjournalistischen sowie fachlichen Diskussionen ständig wie selbstverständlich auftaucht, aber nie angesprochen wird. Meist heißt es: „Der Placebo-Effekt ist echt, weil wir ihn messen messen können:“
„Wirklich ist, was wirkt“ – dieser Aphorismus wurde u.a. auch von C. G. Jung geäußert.
Placebo- bzw. Bedeutungseffekte sind deshalb WIRKLICH, weil die Bedeutung eines Placebos subjektiv WIRKSAM ist. Da IST irgendetwas, das wirkt. Dagegen begründet sich aus Sicht der der empirischen Naturwissenschaft für viele die Wirklichkeit primär durch deren Messbarkeit.
Wie Placebo-Effekte letztendlich theoretisch begründet werden, ist vielleicht nicht so wichtig. Dies hat jedoch maßgebliche Auswirkungen auf die Entwicklung unseres Weltbilds und vor allem unserer medizinischen Verfahrens- und Umgangsweisen.
* Quellen im Beitrag
Bildunterschrift aus Instagram:
Was haben Placebo-Effekte an sich, dass wir sie so gerne über das Gehirn erklären – wie sowieso viele Dinge heutzutage? Was könnte daran problematisch sein?
Wohingegen ‚im Kopf‘ dualistisch betrachtet noch die geistige Sphäre außerhalb der materiellen impliziert – also auch nicht das Gehirn, so meint die Metapher ‚im Kopf‘ heute nichts anderes als ‚neurobiologisch, im Gehirn‘.
Placebo-Effekt: „…an active psychobiological phenomenon which takes place IN THE PATIENT’S BRAIN…“ *
Neurozentrismus ist wie auch Neuroreduktionismus eine Vermaterialisierung der subjektiven Dimension der Person. Diese wird auf neurologische Prozesse des Gehirns reduziert.
Bei Erklärungen zum Placebo-Effekt betrifft dies sowohl die subjektiv wirksame Bedeutung einer Placebo-Behandlung, als auch die subjektiv-erlebten Veränderungen während und nach einer Placebo-Behandlung:
Ein Placebo innerhalb eines Behandlungskontexts zu ERFAHREN wird zur kognitionspsychologischen Wahrnehmung im Gehirn. Schmerzlinderung zu ERFAHREN wird zu Schmerzzentren im Gehirn, bessere Stimmung zu Neurotransmittern usw.
Placebo-Effekte treten physiologisch besonders dort auf, wo sich die Vermittlertätigkeit des zentralen Nervensystems sowohl intrasystemisch als auch zwischen Organismus und Umwelt am eindeutigsten zeigt.
Der Placebo-Effekt als Bedeutungsantwort spielt sich immer am ‚Dazwischen’ von körperlichen und subjektiven Aspekten ab.
Dieses Zusammenspiel von Innen & Außen, Körper & Geist, Subjekt & Welt erfordert eine andere Sichtweise.
T. Fuchs z.B. versteht das Gehirn in seiner phänomenologisch-ökologischen Konzeption nicht als Sitz des Bewusstseins, wie in den von ihm kritisierten neurokonstruktivistischen Ansätzen, sondern als vermittelndes Organ.
* Quellen im Beitrag
5. Missverständlichkeit: Warum evolutionäre Erklärungen allein nicht ausreichend sind
Warum gibt es den Placebo-Effekt?